Die Tür zum Wohnzimmer stand offen. Es gab keine Lampen, und es war niemand da. Aber an der Art, wie die Möbel im Raum standen, konnte ich erkennen, dass seit meinem ersten Besuch nur wenige Stunden vergangen waren. Der Kamin war sauber gemacht worden, der Teppich war wieder gerade gerückt worden, aber das waren auch schon die einzigen Hinweise darauf, dass jemand begonnen hatte, hier aufzuräumen.
Ich ging bis zur Mitte des Zimmers und erreichte die Stelle, an der Dennis Pickering ermordet worden war. Der Boden war feucht und roch streng nach Seife. Offenbar hatte ihn jemand gewischt. Aber Seife und Wasser hatten nicht ausgereicht, um den großen dunklen Blutfleck zu entfernen. 106 Jahre später war er immer noch da, wie ich vor gerade mal einer halben Stunde festgestellt hatte.
Ich kniete nieder und begann, mit meinem Stemmeisen die Dielenbretter zu lösen, musste dabei aber äußerst vorsichtig vorgehen, da die Nägel ein lautes quietschendes Geräusch machten.
Dennis Pickering war erst an diesem Nachmittag getötet worden, aber schon jetzt war der Verwesungsgeruch unerträglich. Ich verstand nicht, warum der junge Mr. Billings und Kezia Mason ihn nicht irgendwo draußen begraben hatten,
aber vielleicht hatten sie das gleiche Problem wie ich. Vielleicht wurden sie von der Polizei oder eher von aufmerksamen Nachbarn beobachtet. Bonchurch war 1992 eine eng verbundene Gemeinde, das musste 1886 noch viel schlimmer gewesen sein: Immerhin war die Einwohnerzahl damals nur halb so groß.
Ich löste erst ein Brett, dann ein zweites. Der arme Pickering lag zusammengekauert in der Position da, in der ich ihn hundert Jahre später vorfinden sollte. Ich spürte, wie sich der Inhalt meines Magens in meiner Speiseröhre nach oben schob, doch ich wusste, dass ich den Leichnam hier rausschaffen musste. Ich musste es für mich tun, für Danny und vielleicht auch für Pickerings eigene unsterbliche Seele. Niemand verdiente es, ohne eine Totenmesse unter einem Fußboden verscharrt zu werden.
Eine Sache machte mir allerdings zu schaffen: die Frage, ob ich in die Geschichte eingriff. Es erschien mir völlig paradox, dass er hier tot vor mir lag, obwohl er eigentlich nicht mal gezeugt worden war. Wenn die Zeit aber mehr wie in einer Geschichte oder in einem Film verlief, dann gab es vielleicht kein echtes Paradox. Nur, wer war der wirkliche Dennis Pickering? Der, der hier tot lag, oder der, der erst noch geboren werden würde?
Mir begann schwindlig zu werden — aus Angst und Verwirrung. Ich musste die Augen schließen und mir befehlen, nicht darüber nachzudenken, sondern einen Schritt nach dem anderen zu tun.
Schließlich fand ich die Kraft, um mich nach vorne zu beugen und meine Hände unter Pickerings Schultern zu schieben. Schwer atmend zog ich ihn an den Schultern und seinem linken Arm aus dem Loch im Boden, bis ich ihn in eine halb sitzende Position gebracht hatte. Seine Hand schlug laut auf den Boden, seine leeren Augenhöhlen waren schwarz von getrocknetem Blut, das auch auf seinen Wangen klebte. Vielleicht war das Blut, das auf dem Wandgemälde aus dem Maul von Brown Jenkin getropft war, so etwas wie eine Warnung gewesen, dass ich mich nicht einmischen sollte.
Ich richtete mich auf und griff unter Pickerings Arme, um ihn aus seinem Grab zu ziehen und auf den Boden zu legen. Zu meinem Glück hatte Brown Jenkin Pickerings innere Organe wieder zurück in die Bauchhöhle geschoben und sein blutgetränktes Hemd zugeknöpft, sodass seine Innereien einigermaßen zurückgehalten wurden. Doch allein der Gedanke ließ mich wieder und wieder schlucken, während ich versuchte, meinen Geist mit irgendetwas anderem zu beschäftigen.
Ich zog ihn hinüber bis zum Fenster, dann ging ich zurück und legte die Dielenbretter wieder an ihren Platz. Nachdem ich die Tür geschlossen hatte, benutzte ich einen Hammer, den ich am Kamin entdeckt hatte, um die Nägel wieder einzuschlagen. Ich legte ein Kissen vom Sofa dazwischen, um das Geräusch zu dämpfen. Zwar hörte es sich in meinen Ohren an, als klopfe Satan an die Tore zur Hölle, aber ich nahm an, dass es nicht allzu laut war.
Halb trug ich Pickering nach draußen, halb zog ich ihn hinter mir her, während ich ihn aus dem Haus schaffte und über die Veranda brachte. Seine Fersen rutschten holpernd über die Steinstufen. Dann zog ich ihn über den Rasen, vorbei am Teich, über die Brücke und zwischen den Bäumen hindurch, die den Weg zum hinteren Gartentor säumten.
Ich wollte ihn hinunter zum Strand bringen und so weit wie möglich ins Meer schleppen, damit ihn die Taschenkrebse zu fassen bekamen. Jeder, der ihn am nächsten Morgen finden würde, sollte denken, dass es sich bei ihm einfach nur um einen ertrunkenen Fischer handelte. Obwohl das im Jahr 1886 eigentlich völlig egal war, schließlich kannte hier niemand einen Dennis Pickering.
Die Mauer am Strand war anders, als ich sie kannte. Es gab eine Reihe von Holzstufen, die zu den Felsen hinunterführten. Mir fielen die Stahlstifte auf, mit denen man diese Stufen an den Felsen befestigt hatte. Sie waren mir vertraut, nur dass im Jahr 1992 nichts mehr von den Stufen übrig war. Ich hatte mich immer gewundert, welchem Zweck diese Stifte gedient hatten — jetzt wusste ich es.
Ich schleppte Pickering zum Strand. Es war gerade Ebbe, sodass ich gut zweihundert Meter auf einem schmalen sandigen Pfad zwischen den Felsen zurücklegen musste. Schließlich hatte ich die ersten Wellen erreicht. Sie umspülten meine Hosenbeine und drangen in meine Schuhe ein. Pickerings Leichnam begann allmählich zu treiben, doch ich zog ihn weiter, bis ich bis zur Hüfte im Wasser watete. Ich versetzte ihm einen Stoß und sah zu, wie er davontrieb, bis nur sein heller Kragen in der Dunkelheit zu sehen war. Ich kannte kein Gebet, sondern dachte mir einfach eines aus. Unter diesem viktorianischen Himmel, in einer Welt, in der Großbritannien immer noch über Indien herrschte, in der die Zaren in Moskau das Sagen hatten, in der Präsident Cleveland in Washington an der Macht war ... in dieser Zeit schickte ich einen Mann aus einer anderen Zeit auf seine letzte Reise, auf dass er seinem Schöpfer begegnete. Ich watete zurück ans Ufer.
1886 gab es noch kein Strandcafe, sondern eine Reihe von Cottages, die genauso peinlich sauber und gepflegt wirkten wie 1992. Ich ging den steilen Pfad hinauf, der zurück zum Fortyfoot House führte. Er war nicht geteert, stattdessen knirschten unter meinen Schuhsohlen kleine Steine und lockerer Kies. In der Ferne hörte ich einen Hund bellen, und als ich Lichter blinken sah, wurde ich fast von der Unwirk-lichkeit meiner Situation überwältigt.
Ich näherte mich dem Gartentor, als ich eine düstere Gestalt bemerkte, die nahe der Hecke stand. Ihr Gesicht war hinter dem überhängenden Efeu verborgen. Ich blieb stehen und starrte in die Finsternis, um festzustellen, ob es sich vielleicht um Brown Jenkin handelte. Wenn er es wirklich war, konnte ich nur die Flucht ergreifen und versuchen, auf einem anderen Weg ins Fortyfoot House zurückzukehren.
Aber die Gestalt wirkte größer und massiger als Brown Jenkin. Sie gab keinen Laut von sich, während sie da im Schatten des Efeus stand, und hielt die Hände in einer Geste größter Geduld verschränkt.
»Wer ist da?«, fragte ich schließlich.
Die Gestalt trat einen Schritt nach vorn, ihr Gesicht wurde von einer Kapuze verdeckt, die der einer Mönchskutte glich. Ich war bereit, sofort loszurennen, als mein Gegenüber die Kapuze nach hinten schob. Es war der junge Mr. Billings, seine Wangen ein wenig narbig. Er roch nach Gin und irgendeinem süßlichen Rasierwasser. Nach einem Moment räusperte er sich. »Erkennen Sie mich nicht?«, fragte er ruhig.
»Natürlich«, sagte ich.
»Ich habe Sie beobachtet«, fuhr er fort. »Ich habe gesehen, was Sie da unten am Strand gemacht haben. Indem Sie hergekommen sind, Sir, sind Sie ein großes Risiko eingegangen. Indem Sie zurückgekommen sind, haben Sie das Risiko nur noch größer werden lassen.«