Billings war nicht verärgert, sondern sprach weiter: »Wieso glauben Sie das? Sie sind nicht verrückt, und ich kann nicht verrückt sein, weil ich die Wahrheit sage. Ich muss die Wahrheit sagen, sonst wüsste ich nicht, wer Sie sind. Und ich wüsste nichts über Ihren kleinen Jungen. Dies ist das Jahr 1886, und keiner von Ihnen beiden ist geboren. Es wird noch lange dauern, ehe das geschieht.«
»Na gut«, sagte ich schließlich. »Sie sagen die Wahrheit. Aber können Sie mir bitte erklären, was hier los ist?«
»Nun denn«, stimmte der junge Mr. Billings zu. »Um es so kurz zu machen, wie es mir nur möglich ist: Es war zunächst einmal der Fehler meines Vaters. Er verbrachte viele Jahre im Londoner East End, in den Slums, um verlassenen Kindern zu helfen. Er hat viele wunderbare Dinge geleistet, glauben Sie mir. Aber es erfüllt mich mit Schande, sagen zu müssen, dass er nicht aus reiner Menschenliebe handelte.«
»War er ein Skinner?«, fragte ich.
Billings warf mir einen bohrenden Blick zu: »Mit wem haben Sie sich unterhalten? Charity?«
»Ist nicht so wichtig. Erzählen Sie weiter.«
»Sie haben nicht ganz Unrecht. Er hatte eine Vorliebe für sehr junge Mädchen. Als er Kezia Mason zum ersten Mal im Haus von Dr. Barnardo sah, war er völlig hingerissen von ihr. Er wollte Kezia sofort mit in sein Waisenhaus nehmen, aber der Doktor war sehr vorsichtig im Umgang mit Männern seiner Art. Außerdem war Dr. Barnardo offenbar der Ansicht, dass Kezia nicht das war, was sie zu sein schien. Soweit er das beurteilen konnte, hatte sie Körper und Seele einem Geschöpf namens Mazurewicz versprochen, das in einem riesigen Rattennest unter einer der heruntergekommensten Londoner Kaianlagen lebte. Unter größter Gefahr für sein eigenes Leben hatte Dr. Barnardo Kezia Mason wieder und wieder von Mazurewicz weggeholt, aber sie war immer wieder geflohen und zu diesem ... diesem Ding zurückgekehrt. Dr. Barnardo sagte, das sei die unheiligste Beziehung, die er jemals erlebt habe. Ein Geschöpf, das wie der König der Ratten lebte und aussah, und das hübscheste Cockney-Mädchen, das ihm je begegnet sei.«
Obwohl ich alles dafür gegeben hätte, so schnell wie möglich ins Fortyfoot House und damit ins Jahr 1992 zurückzukehren, wo Danny und Charity immer noch im Garten spielten und auf ihr Frühstück warteten, konnte ich nicht anders, als noch eine Weile zu bleiben. Billings war erwacht, hatte sein Bett verlassen und war mir zum Strand gefolgt, um mir alles zu erzählen. Wie hätte ich da aufbrechen können?
Er hustete einmal, nahm sein Taschentuch und wischte sich den Mund. »Was aber weder Dr. Barnardo noch mein armer Vater zu irgendeiner Zeit erkannt hatten, war die Tatsache, dass Kezia Mason nichts weiter war als das sterbliche Abbild eines hübschen Cockney-Mädchens. Äußerlich war sie dieses Mädchen, doch in ihrem Inneren war sie ein Wesen, das zehntausendmal seltsamer und gefährlicher war als Mazurewicz. Viel später - als es schon zu spät war - kam ich dahinter, dass es in Wahrheit Mazurewicz war, der ihr diente, nicht umgekehrt. Jedes Mal, wenn sie zu ihm zurückkehrte, verfolgte sie eine bestimmte Absicht. Die Geschichte von Mazurewicz ist sehr unzusammenhängend und abstrus. Von meinem Vater habe ich gehört, dass er um 1850 aus den Slums von Danzig nach London gekommen sein soll. Angeblich war seine Mutter eine hübsche polnische Primaballerina, die sehr sonderbare sexuelle Neigungen gehabt haben soll. Mit wem oder was sie es getrieben hatte, konnte niemand sagen. Aber es gibt Fälle von Kreuzungen zwischen Mensch und Tier, so sehr Wissenschaftler und Theologen das auch bestreiten. Frauen haben Hunde und Schweine und sogar Ponys zur Welt gebracht. Es gibt Dutzende Fälle, die bekannt sind, und vermutlich Tausende von unbekannten Fällen, von denen niemand etwas weiß, weil sie sich irgendwo auf dem Land abspielten und die Monstrosität bei der Geburt ums Leben kam.«
»Und was geschah?«, fragte ich. »Brachte Ihr Vater Kezia Mason ins Fortyfoot House?«
»Ja. Ganz plötzlich willigte sie ein. Mein Vater war begeistert. Er kaufte ihr Kleider und lehrte sie lesen, er behandelte sie wie eine Prinzessin. Er überredete sie, für ihn Modell zu stehen, damit er sie malen und fotografieren konnte. Rückblickend war sie wahrscheinlich diejenige, die ihn in Versuchung führte. Im Gegenzug für ihre Dienste kaufte mein armer Vater ihr Schmuck und Pelze, Brandy, Morphium - alles, was sie haben wollte. Natürlich beklagte er sich nicht, er vergötterte sie nach wie vor. Allmächtiger Gott, er hatte nicht die mindeste Ahnung, was sie war!«
»Wie kamen Sie dahinter?«, fragte ich misstrauisch.
»Ich? Ich erwischte sie dabei, wie sie in der Bibliothek meines Vaters die Figuren in einem Ölgemälde dazu brachte, sich zu bewegen. Sie ließ die Wolken weiterziehen, die Windmühlen drehten sich. Das ganze Bild war mit Leben erfüllt. Von dem Moment an war ich davon überzeugt, dass sie eine Hexe war.«
»Und was haben Sie dann gemacht?«
»Das Gleiche wie Sie, als Sie mehr über Fortyfoot House erfahren wollten. Ich ging in die Bibliothek. Damals war das noch anders, es war eine private Bibliothek, und sie war sehr klein. Aber der alte Mr. Bacon konnte alles finden, was man suchte. Ich las über die wahre Geschichte der Hexen, und sie hat mich zutiefst beunruhigt. Das können Sie mir glauben, Sir. Ich hatte sie nie für real gehalten, ganz gleich, in welcher Form. Ich meine, jeder von uns kennt irgendeine alte Schachtel, eine arme alte Frau, der man die Schuld gibt, wenn die Hennen keine Eier legen oder die Milch sauer wird. Aber hier ging es um wahre Hexen, ein Wort, das es mehr als 3500 Jahre vor Christus bereits gegeben hatte.« Billings machte eine kurze Pause, als wolle er seine Worte wirken lassen.
»Die alten Ägypter haben ihre Pyramiden nach hoch entwickelten mathematischen Berechnungen gebaut, sodass sie in der Lage waren, die Zeit langsamer verlaufen zu lassen, damit die Körper ihrer heiligen Pharaonen niemals zerfielen. Die Macht der Pyramiden ist ja weithin bekannt. Viele angesehene Winzer lagern ihre Weine in pyramidenförmigen Kisten, um den Reifeprozess zu verlangsamen. Die Sumerer benutzten die gleichen Berechnungen, um etwas zu erreichen, was die Ägypter nie gewagt hatten. Sie entwickelten Zikkurats, mit denen sie so weit in der Zeit zurückreisen konnten, dass sie die Erde in einer Epoche besuchen konnten, bevor die Menschheit existierte. Einer Epoche, in der die Welt von einer Art bevölkert wurde, die als die Großen Alten bezeichnet wurde. Es handelte sich um eine Zeit, in der gewaltige mysteriöse Städte den Nahen Osten prägten. Es gibt zahlreiche Aufzeichnungen darüber, dass diese Städte existierten. Sie müssen sich nur einmal im British Museum umsehen. Dem Anschein nach wurden sie von Bestien bewohnt, deren Gesichter wie Rauch aussahen und aus denen sonderbare Tentakel herausragten. Und von Wesen aus Schaum. Und von unbeschreiblichen bösartigen Organismen, die wie strahlende Lichtkugeln aussahen. Es gab Wesen, die aus der ursprünglichen Finsternis erschaffen worden waren, aus der auch das Universum besteht. Sie waren fremdartiger und bedrohlicher als alles, was man sich vorstellen kann.«
»Und Sie wollen mir sagen, dass Kezia Mason eines von diesen Wesen ist?«
Billings nickte.
»Niemand weiß, wie viele Hexen es gibt, es könnten Tausende sein, vielleicht aber auch nur zwei-bis dreihundert. Wenn ein menschlicher Wirt stirbt oder erhängt, ertränkt oder gepfählt wird, dann bleibt dieses Wesen an der Stelle zurück, an welcher der Wirt ums Leben gekommen ist, tarnt sich und wartet auf den nächsten Wirt. Auf diese Weise werden dieselben Hexen immer und immer wieder zum Leben erweckt.«
Plötzlich musste ich an die flackernde Vision der Nonne denken, die ich in meinem Schlafzimmer gesehen hatte. Ein düsteres Gefühl von Furcht und Misstrauen begann von mir Besitz zu ergreifen, so wie eiskaltes Wasser, das sich in einen Teppich saugt.