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16. Zähne und Klauen

Ich starrte den jungen Mr. Billings an, während er mich mit ernstem Gesichtsausdruck betrachtete. Das Schamgefühl schien zu viel für ihn, also wandte er sich von mir ab. »Ich muss jetzt gehen«, sagte ich. »Ich weiß nicht, ob ich

Ihnen für das danken soll, was Sie mir gesagt haben, oder ob ich Sie verfluchen soll.«

»Sie können wenigstens Charity retten«, sagte er. »Bringen Sie sie so weit weg von Fortyfoot House wie möglich. Und sich selbst ebenfalls. Brown Jenkin kann Ihnen nicht sehr weit folgen.«

»Was ist mit den anderen Kindern? Ich bin vorhin einigen von ihnen begegnet.«

»Oh, ja. Ihr Geflüster und Umherlaufen hat mich aufgeweckt. Sie können sie nicht mitnehmen, fürchte ich. Wenn Sie es doch nur könnten. Aber Brown Jenkin würde vor Wut mindestens doppelt so viele Kinder ermorden. Er handelt völlig irrational.«

»Aber die Kinder werden so oder so sterben. Ich habe die Grabsteine gesehen.«

»Das Schicksal ist nicht unveränderlich, Sir, wie Sie selbst bereits festgestellt haben. Was wäre, wenn Sie Ihren Freund, den Reverend, unter dem Fußboden gelassen hätten? Was, wenn Sie mit ihm niemals durch den Durchgang gekommen wären? Unser Schicksal hat schon immer in unserer eigenen Hand gelegen. Das einzige Paradox ist, dass wir unser Leben nicht ändern, wenn wir die Chance dazu haben.«

Er ergriff meine Hand und hielt sie fest umschlossen. Es war ein unbeschreiblich seltsames Gefühl. Hier stand ich und hielt die Hand eines Mannes, der seit über hundert Jahren tot war. Ich fühlte mich wie auf einer Achterbahn kurz vor dem Sturz ins absolute Nichts. Ich konnte mit einem Mal verstehen, warum Menschen den Verstand verloren.

»Ich hatte Brown Jenkin sechs Kinder zugestanden«, sagte er. »Ich dachte mir, dass sie ohnehin verhungert, an einer Krankheit oder durch brutalen sexuellen Missbrauch gestorben wären, wenn sie im Londoner East End geblieben wären. Aber dann bedrängte mich Kezia weiter, und ich ließ es zu, dass er weitere sechs Kinder nehmen konnte. Mir wurde dabei die Fadenscheinigkeit meiner anfänglichen Rechtfertigung bewusst. Und jetzt will sie, dass er noch einmal sechs

Kinder bekommt. Ich weiß, wo das enden wird, wenn ich nicht drastische Maßnahmen ergreife.«

»Was werden Sie machen?«

»Ich reise in die Zukunft«, sagte Billings. »Ich reise bis zum äußersten Zeitpunkt und halte diese Monstrosität unmittelbar vor der Erneuerung auf, bevor die Welt für immer verdammt ist.«

Ich sah auf meine Uhr und bemerkte, dass ich seit mindestens einer halben Stunde hier gewesen sein musste. Die Kinder würden sich Sorgen über meinen Verbleib machen. »Ich kehre jetzt besser zurück«, sagte ich. »Ich weiß nicht, ob ich das wirklich alles verstehe. Ich weiß noch immer nicht, warum Brown Jenkin nicht aus der Zukunft zurückkommen und Kezia vor dem warnen wird, was Sie vorhaben.«

»Weil dies hier, November 1886, meine echte Zeit ist. Sie können durch den Durchgang gehen, und wenn Sie morgen zurückkehren, sind hier genauso viele Stunden verstrichen wie in Ihrer Zeit.«

»Ich glaube, ich bin verwirrter als zuvor.«

»Glauben Sie mir«, sagte Billings. »Wir können die Kinder retten, wenn wir es nur versuchen. Ich bin sicher. Und wenn wir das nicht können, dann verdiene ich alles, was Gott für mich als Strafe vorgesehen hat.«

»Würden Sie das gerne wissen?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich kann es mir nur zu gut vorstellen. Vermutlich Wahnsinn und dann Tod. Ich spüre, wie die beiden schon jetzt an mir nagen. Aber ich möchte es nicht von jemandem hören, der es mit Sicherheit weiß.«

Ich öffnete das Gartentor und schritt durch die Dunkelheit unter den Bäumen. Fortyfoot House hob sich pechschwarz vom Nachthimmel ab und wirkte sonderbar unenglisch, eher wie eine türkische Festung oder eine Klippe auf einer fernen Welt. Ich ging den Weg hinauf, überquerte die kleine Brücke, lief dann über den Rasen, der zur Rückseite des Hauses führte. Der Fischteich wirkte wie ein silbernes Fenster in der Finsternis, durch das ich direkt in einen schrecklichen uner-reichbaren Abgrund starrte. Wenn man durch dieses Fenster fiel, würde man geradewegs nach unten in den Himmel stürzen.

Ich eilte an der Sonnenuhr vorbei, als ich ein scharfes, krachendes Geräusch hörte. Ich sah hinüber zur Sonnenuhr und bemerkte, dass ein feiner gleißend blauer Funkenregen aus dem Zeiger kroch und die römischen Ziffern umspielte. Rasch warf ich einen Blick auf die Schatten im Garten, die alle etwas Bedrohliches ausstrahlten. Wenn Funken flogen, dann war Kezia Mason nicht weit entfernt. Und mit ihr war auch Brown Jenkin nicht mehr weit. Ich lief schneller, aber einen Moment später schoss ein Blitz aus dem Zeiger der Sonnenuhr und traf mich an der Schulter. Die Nerven und Muskeln in meinem linken Arm reagierten so heftig, dass meine Faust ungewollt nach oben ausschlug. Dann spürte ich etwas Brennendes, und ich bemerkte, dass eine Rauchwolke aus meinem Poloshirt aufstieg.

Von den Stufen zur Veranda vor mir trat Kezia Mason vor, dicht gefolgt von Brown Jenkin. Kezia war in ein exzentrisches, arabisch anmutendes Kostüm gehüllt, das aus verschmutzten, zerrissenen Bettlaken bestand, die sie zu einem monströsen Burnus um ihren Kopf gewickelt hatte, der nur ihre Augen unbedeckt ließ. Die Laken waren auf ihren Schultern aufgetürmt und mit einer Vielzahl verknoteter Schnüre befestigt. Vom Brustkorb an abwärts bis zu den Knien war sie nackt, wenn man von einem Beutel absah, der um ihre Hüfte gebunden war und mit welkem Eichenlaub und Rosenblättern und Mistelzweigen und sogar mit einem halb mumifizierten Spatz bestückt war. Ihre Schienbeine waren ebenfalls mit zerrissenen Laken umwickelt, ihre Füße waren bloß. Allerdings hatte sie um jeden Zeh ein Stück Schnur gebunden.

Die Laken sahen aus, als seien sie mit Blut und Urin verschmutzt, und obwohl sie noch fünf oder sechs Meter von mir entfernt stand, konnte ich den Gestank des Todes wahrnehmen. Kezia Mason und Brown Jenkin waren der Tod ... der Tod und sein schlurfender Gefährte.

»Bonsoir bastard, comment ca vaf«, kicherte Brown Jenkin und sprang auf dem Rasen von Schatten zu Schatten, bis ich nicht mehr wusste, was Schatten und was das Ratten-Ding war. »We were so traurig bastard-bastard. But so happy now, dass wir deine lunchpipes riechen können! I hook out your derriere-ring avec meinen Klauen, ja!«

Die ganze Zeit über kroch und tanzte Brown Jenkin durch die Dunkelheit, während Kezia Mason langsam um mich herumging. Ihre Laken raschelten, ihr Beutel prallte sanft von ihrem nackten Schoss ab.

»Was hat dich wieder hergeführt, Mr. Einmischer?«, fragte sie mich. »Keine Lust mehr zu atmen? Was hast du denn mit dem Heiligen gemacht? In die Brandung geworfen?«

»Ha! Ha! Tekeli-li! Tekeli-li!«, kreischte Brown Jenkin, bis Kezia Mason mit einem starren Zeigefinger auf ihn deutete.

»Ruhig, Jenkin! Du siehst aus, als hätte dich der Teufel im Galopp verloren!«

Sie schnippte mit den Fingern, und im gleichen Moment platzte eine Ader in Brown Jenkins rattenähnlichem Nasenloch. Blut spritzte auf seine Schnurrhaare und seinen hochgeschlagenen Kragen. Er fasste sich an die Nase und rannte maulend über das Gras.

»Also?«, forderte Kezia, während sie sich mir näherte. Ich konnte den stechenden süßlichen Geruch kaum ertragen, und ich spürte, wie sich mein Magen umzudrehen begann. »Was willst du hier, Trottel? Du siehst ein bisschen blass um die Kiemen herum aus, nicht? Bist du für was Unanständiges gekommen? Oder um Arger zu machen? Oder für beides?«

Ich hatte keine Ahnung, was ich ihr sagen sollte. Ich verstand ja kaum, was sie eigentlich von mir wollte. Außerdem war meine Kehle vor Furcht und Abscheu so zugeschnürt, dass ich mir nicht vorstellen konnte, überhaupt einen Ton herauszubringen. Ich sah zur Seite, um sicher zu sein, dass Brown Jenkin nicht hinter mir lauerte, doch im gleichen Moment streckte sie die Hand aus und bekam mein Gesicht mit allen fünf Fingern zu fassen. Sie bohrte den kleinen