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»Da«, sagte ich zu Danny. »Sieht aus wie Jesus.« Doch dann zog ich einen letzten Wust raschelnden Efeus zur Seite und legte das Bild einer Frau mit wallendem rötlichen Haar, einem roten Stirnband und einem außergewöhnlichen, ergreifenden Gesichtsausdruck frei. Ein Großteil der Farbe war vom Wetter und dem austrocknenden Effekt des Efeus ausgeblichen, doch die Frau war noch immer beeindruckend, und das Gemälde war so lebensecht, dass ich fast das Gefühl hatte, die Frau spreche zu uns.

Was mich störte, war nicht die realistische Darstellungsweise der Frau, sondern das, was um ihren Hals lag. Das Gemälde war so blass geworden, dass ich es zuerst für eine dunkle Pelzstola hielt. Aber als ich genauer hinsah, erkannte ich, dass es sich um eine große Ratte handelte - oder um etwas, das einer Ratte sehr ähnlich sah. Das Tier hatte ein weißes längliches Gesicht und schräg stehende Augen, aber der Gesichtsausdruck wirkte eher wie der eines Menschen als der eines Tieres. Spöttisch, berechnend und verschlagen.

»Das ist nicht Jesus«, sagte Danny nachdrücklich.

»Nein.«

»Und wer ist es dann?«

»Ich weiß nicht, ich habe keine Ahnung.«

»Was ist das da auf den Schultern? Dieses hässliche Ding?«

»Vermutlich eine Ratte.«

»Das ist hässlich.«

»Du hast Recht. Komm, wir verdecken es wieder.«

Ich versuchte, den Efeu wieder vor das Gemälde zu ziehen, aber nachdem ich ihn einmal von der Wand gezerrt hatte, weigerte er sich, wieder in seine alte Position zurückzukehren. Schließlich musste ich die Wand freigelegt lassen. Damit blieb die Frau genauso für jedermann sichtbar wie die verschlagen aussehende Ratte. Aus irgendeinem unerklärlichen Grund empfand ich beide als ausgesprochen unangenehm und irritierend, vor allem störte mich die in dem Bild angedeutete unausgesprochene Symbiose zwischen ihnen - die Implikation, dass die Frau die Ratte ebenso benötigte wie umgekehrt.

»Können wir gehen?«, drängte Danny, und ich nickte, auch wenn es mir schwer fiel, meinen Blick von der Frau zu lösen. Danny lief voraus und kletterte auf einen I laufen zerbrochener Dachziegel und Steine, um aus dem leeren gotischen Fenster zu blicken. »Von hier aus kann ich den Strand sehen«, sagte er. »Schau mal, da ist das Gartentor.«

Ich stellte mich neben ihn und stützte meine Ellbogen auf die Fensterbank. Der Ausblick war von hier aus wunderschön - die großen Bäume, die Gärten, der Weg, der langsam zur

See hin abfiel. Aus dieser großen Entfernung wirkten die Gärten bemerkenswert gepflegt. Sogar die Erdbeerbeete schienen frei von Unkraut zu sein, mit Früchten, die rot leuchteten. Der Fischteich glitzerte im morgendlichen Schein der Sonne, auf seiner Oberfläche spiegelten sich die langsam dahintreibenden Wolken.

»Da hinten ist ein Fischerboot«, rief Danny. Durch die Bäume hindurch konnte ich das rostfarbene dreieckige Segel ausmachen, während sich das Boot langsam der Küste näherte.

»Irgendwann werden wir auch mal mit einem Boot aufs Meer hinausfahren«, versprach ich ihm. »Solange du mir versprichst, dass du Schwimmen lernst.«

»Ich kann ja Schwimmflügel anziehen«, schlug er vor.

Ich sah hinüber zum Fortyfoot House. Der Verputz schien im Sonnenlicht viel heller zu sein und die Fenster schienen zu strahlen. Merkwürdig war, dass es von hier aus so wirkte, als befänden sich an jedem Fenster Gardinen, obwohl die einzigen Gardinen im gesamten Haus jene waren, die ich in Dannys und in meinem Schlafzimmer aufgehängt hatte.

Ich legte die Stirn in Falten und kniff die Augen zusammen. Irgendetwas stimmte nicht. Von hier aus war Fortyfoot House nicht das heruntergekommene, von Feuchtigkeit gezeichnete Gebäude, das ich renovieren sollte. Von hier aus waren die Gärten nicht zugewuchert, die ich vom Unkraut befreien sollte. Von hier sah das Fortyfoot House fast aus wie neu, die Gärten waren makellos.

Es sah genauso aus wie auf der alten Fotografie des Hauses, die im Erdgeschoss im Flur hing. Fortyfoot House im Jahre 1888.

Als würde mir Eiswasser über den Rücken geschüttet, wandte ich meinen Blick ab und schaute hinüber zu den Cottages unten am Strand. Sie wirkten nicht so stark verändert, allerdings war von den Dachantennen nichts mehr zu entdecken. Ich konnte sie jetzt auch viel besser sehen, weil nicht so viele Bäume und Hecken die Sicht verdeckten.

Ich blickte nach unten auf den Friedhof; das Gras war ordendich gemäht, Geranien blühten in kreisrunden Beeten. Und es gab keine Grabsteine, nicht einen einzigen konnte ich erkennen.

»Danny«, sagte ich und legte meine Hand auf seine Schulter. »Wir sollten jetzt gehen.«

»Ich möchte nur noch sehen, wie das Fischerboot vor Anker geht.«

»Du kannst auch zum Strand runterlaufen und es dir von dort anschauen.«

Bevor ich hinunterklettern konnte, sah ich im Augenwinkel, dass jemand aus der Küche des Fortyfoot House kam und selbstsicher und ruhig über die sonnenbeschienene Veranda ging. Es war ein Mann in einem schwarzen Frack, er trug einen hohen schwarzen Hut. Während er ging, hielt er sein Revers fest und blickte nach rechts und links, als würde er etwas inspizieren.

Er erreichte die Mitte des Rasens und blieb stehen, verschränkte die Hände auf dem Rücken und genoss offensichtlich die leichte Brise, die von der See herüberwehte.

Während er da stand, sah ich, dass sich noch etwas anderes bewegte. In einem der oberen Fenster des Hauses entdeckte ich ein blasses Gesicht. Ich sah noch einmal genauer hin, und einen Moment lang glaubte ich, die Gesichtszüge jener Ratte wiederzuerkennen, die sich um die Schultern der Frau an der Kapellenmauer gelegt hatte.

Dann war es verschwunden, das Fenster war wieder dunkel.

»Hey!«, rief ich dem Mann auf dem Rasen zu. Falls er real war, falls ich nicht halluzinierte, dann musste er mich hören.

»Hey, Sie da!«, schrie ich. »Ja, Sie da, auf dem Rasen!«

»Wer ist denn das?«, fragte Danny.

»Siehst du ihn auch?«

»Na klar. Er trägt einen lustigen Hut.«

»Sie da!«, rief ich erneut und ruderte mit den Armen.

Der Mann wandte sich um und blickte zur Kapelle. Sein Gesicht hatte einen düsteren, missbilligenden Ausdruck. Er zögerte einen Moment lang, als überlege er, ob er zur Kapelle und damit zu uns kommen solle, doch dann drehte er sich um und ging zügig zurück zum Haus. Bauz! Da geht die Türe auf, Und herein in schnellem Lauf, Springt der Schneider in die Stub´, Zu dem Daumen-Lutscher-Bub.

»Hey«, rief ich ihm nach. »Hey, bleiben Sie stehen!«

Der Mann nahm aber keinerlei Notiz von mir und ging mit weit ausholenden Schritten weiter in Richtung Haus.

»Komm, Danny!«, sagte ich. »Wir müssen ihn einholen.«

Wir stiegen von dem Geröllhaufen und zwängten uns durch die Tür. Als wir draußen standen, stellte ich erstaunt fest, dass der Friedhof wieder überwuchert war. Und die Grabsteine standen dort wie zuvor - umgestürzt, vernachlässigt. Aber sie waren da, sie waren real. Wir eilten den Abhang hinab, balancierten wieder über den Bach, dann liefen wir keuchend über den Rasen in Richtung Veranda. Während wir uns dem Haus näherten, sah ich, dass die Küchentür einen Spaltbreit offen stand. Ich wusste ganz sicher, dass ich sie geschlossen hatte, als wir aus dem Haus gegangen waren.

Ich bedeutete Danny, hinter mir zu bleiben, und näherte mich langsam der Küchentür. Ich versuchte dabei so wenig Geräusche wie möglich zu machen. Ich gab der Tür einen Stoß und ließ sie auffliegen, bis sie gegen die Wand schlug, erzitterte und dann in ihrer Position verharrte.

»Wer ist da?«, rief ich. »Ich warne Sie, dies ist Privatbesitz!«

Keine Antwort. Ich konnte die Muffigkeit der Küche riechen - verstopfte Abflüsse, Schränke, die zu lange geschlossen gewesen waren, und Domestos. Die Sonne, die durch die Fenster fiel, teilte die Küche in kleine Quadrate auf.