»Oh Jesus«, sagte ich leise.
»Genau. Oh Jesus. Und Sie, mein Freund, werden so einiges erklären müssen. Zum Beispiel, wie es kommt, dass Sie ein so unglaubliches Talent besitzen, die Leichen gerade erst verstorbener Menschen zu entdecken. Das entwickelt sich allmählich zu einer Poirot-Geschichte. Oh Scheiße, dieses Schloss ist ja fast Houdini-sicher.«
Nach einigen weiteren Versuchen vernahmen wir aber dann doch noch ein erfreuliches Klicken, und dann ging die Tür auf. Sofort roch ich einen sonderbaren, markanten Geruch, eine Mischung aus etwas Süßem und Zerfall. Es war ein Haus, in dem sich etwas Totes befand.
»Sie können hier warten, wenn Sie wollen«, schlug Miller vor, ohne mich anzusehen. »Allerdings nur, wenn Sie mir versprechen, dass Sie nicht abhauen.«
»Nein, ich komme mit Ihnen. Ich will sehen, was hier passiert ist. Ich muss es sehen.«
Wir gingen langsam durch den Flur und näherten uns der Stelle, die ich für einen Schatten oder einen Schal auf dem Boden gehalten hatte. Jetzt bestand kein Zweifel mehr daran, dass es sich um Blut handelte. Eine große dunkelrote Pfütze, auf der sich bereits Fliegen tummelten.
»Hier ist jemand abgeschlachtet worden, und das sehr gründlich«, sagte Miller mit tonloser Stimme. Er ging wie eine Ballerina auf Zehenspitzen in den Salon, um nicht in die Blutlache zu treten. Dann stand er lange Zeit einfach nur da und war so stumm, dass ich mich ernsthaft zu fragen begann, ob er vergessen habe, wo er sich befand, oder ob er möglicherweise im Stehen eingeschlafen sei.
»Sergeant?«, fragte ich.
Miller erwachte aus seiner Trance, hob die linke Hand und machte eine fast nicht wahrnehmbare Geste. »Sie kommen besser her und sehen sich das an«, sagte er. »Immerhin könnten Sie das veranstaltet haben. Ich möchte Ihre Reaktion beobachten.«
»Ist es Mrs. Pickering?«, fragte ich. Meine Stimme klang erstickt und fremd.
Er nickte. »Kommen Sie und sehen Sie selbst.«
Mit zwei Schritten war ich im Zimmer. Es war ein großer Raum, der von der nachmittäglichen Sonne hell ausgeleuchtet wurde. Es gab einen Kamin aus Marmor, schwere bequeme Sessel aus den dreißiger Jahren. Ein poliertes Tablett mit verzierten Beinen diente als Kaffeetisch. Ausgaben des Daily Telegraph Magazine sowie der Church Times und des Punch waren ordentlich in einen Zeitschriftenständer gepackt. Es war ein völlig normaler Salon an einem warmen Sommernachmittag in einem südenglischen Vikariat.
Das Zimmer war so normal, dass das Entsetzen in seiner Mille zehnmal schlimmer war als jeder Anblick eines schweren Verkehrsunfalls auf der M 25 mit Toten und Verletzten oder in der Notaufnahme jedes größeren Krankenhauses. Das Blut hatte mich darauf vorbereitet, eine Leiche zu sehen. Aber nichts auf dieser Welt hätte mich auf die Art vorbereitet, wie der Tod eingetreten war. Ich stand neben Miller und ging buchstäblich in die Knie - eine schreckliche, ungewollte Bewegung.
In einem der Sessel saß der kopflose Leichnam von Mrs. Pickering. Sie hatte eine pfirsichfarbene Seidenbluse und einen weißen Baumwollrock getragen, doch von beiden waren nur noch kaum wiederzuerkennende Fetzen übrig. Ihr gesamter Körper war mit solcher Gewalt zerrissen worden, dass Haut und Fettgewebe in Stücken auf den Armlehnen verteilt lagen.
... in gay profusion lying there - scarlet ribbons, scarlet ribbons ....
Ihr blutiger Halsstumpf ragte aus dem blutgetränkten Kragen ihrer Bluse heraus, den größten Teil ihrer inneren Organe - Lunge, Leber und Magen - hatte man durch ihre Luftröhre aus dem Körper gerissen und auf ihren Schultern verteilt. Es wirkte wie eine groteske Parodie auf das Wandgemälde von Kezia Mason mit Brown Jenkin auf ihren Schultern.
Ich konnte ihre Rippen und ihr Becken durch das zerfetzte Fleisch hindurch erkennen. Die Knochen glänzten weiß, nur wenige Fleischreste hingen noch an ihnen. Ihr Korsett und ihr Hüftgürtel waren in Stücke gerissen worden, ein Akt, der gerade bei der Frau des Vikars noch entsetzlicher wirkte als die Tatsache, dass man sie geköpft hatte. Zwischen ihren Beinen lag ein tropfendes Wirrwarr aus Innereien.
Alles war voller Blut. Die Wände, der Teppich, der Spiegel, die weißen Teerosen auf dem Tisch.
Zuerst konnte ich ihren Kopf nirgends entdecken. Ich wandte mich Miller zu und sagte: »Wo ist ihr Kopf?«
Er deutete auf eine Ecke des Zimmers. Sein Gesicht war grau und versteinert. Ich versuchte, das zu erkennen, was er mir zeigte, aber mein Verstand war einfach nicht in der Lage, ihm zu folgen.
»Um Himmels willen, Sergeant!«, schrie ich ihn nahezu an. »Wo ist ihr Kopf?«
Wieder deutete er in die Ecke, aber ich sah nur das braun lackierte Sideboard mit dem blutbespritzten weißen Läufer und dem Goldfischglas darauf.
Jesus, das Goldfischglas!
Das Wasser in dem Glas hatte eine rosarote Färbung. Zwei kleine Goldfische versuchten, in ihrem überfüllten Heim zu schwimmen, doch der eine schnappte nach Luft, der andere hatte eine verletzte Schwanzflosse.
Durch das trübe Wasser starrte mich das durch die Wölbung des Glases grässlich verzerrte Gesicht von Mrs. Pickering an. Ihre Augen waren weit aufgerissen, ihr Mund war mit farbigen Kieselsteinchen gefüllt. Miller ging auf das Sideboard zu und starrte das Fischglas an. Mrs. Pickerings angegrautes brünettes Haar trieb wie Tang an der Oberfläche.
»Können Sie ihn nicht da rausholen?«, fragte ich heiser. Mrs. Pickerings Kopf bewegte sich leicht, sodass es aussah, als würde sie mir nachblicken, während ich näher kam.
Miller schüttelte den Kopf. »Unmöglich. Jedenfalls nicht, ohne das Glas zu zerbrechen.«
»Was?«, fragte ich. »Wenn Sie den Kopf nicht herausholen können, ohne das Glas zu zerbrechen, wie ist er dann hineingekommen?«
Detective Sergeant Miller sah sich im Zimmer um. »Sie hatten von Anfang an Recht«, sagte er. »Fortyfoot House ist verflucht oder besessen oder was auch immer. Und Brown Jenkin existiert wirklich, ganz egal, was die Polizei der Isle of Wight denkt.«
Er ging hinüber zu dem geöffneten Fenster, das den Blick auf einen Rosengarten bot. Der Garten hätte in keinem stärkeren Kontrast zu dem abscheulichen Blutbad im Zimmer stehen können.
»Sehen Sie«, sagte er und zeigte auf blutige Abdrücke auf der Fensterbank und auf dem Glas. Es waren Pfotenabdrücke, die von einem Nagetier stammten. Das Einzige, was sie von denen einer gewöhnlichen Kanalratte unterschied, war die enorme Größe.
Es war alles real, Brown Jenkin, Kezia Mason und auch Yog-Sotholh, wie Lovecraft das Böse genannt hatte. In dem Augenblick schoss mir eine Gedanke wie ein Aufschrei durch den Kopf: Danny!
»Wohin wollen Sie?«, herrschte Miller mich an, als ich mir einen Weg aus dem Raum bahnte.
»Das Haus! Liz hat Danny! Und ich wette, dass Brown Jenkin auch dort ist!«
»Was reden Sie da? Wir können doch nicht einfach ...« Er sah sich verzweifelt in dem blutigen Zimmer um.
»Sergeant«, flehte ich ihn an. »Bitte!«
20. Der Garten von morgen
Als wir in die enge Straße einbogen, die in Richtung Fortyfoot House führte, spürte ich bereits, dass etwas nicht stimmte. Obwohl es ein sonniger, warmer Nachmittag war, hatte der Himmel über Fortyfoot House etwas Düsteres an sich. Außerdem konnte ich Erschütterungen spüren. Die Luft um das Haus herum war verzerrt, und als wir das Haus erreicht hatten, sah ich Störungen in der Luft, die wie eine Fata Morgana wirkten. Die Bäume schienen sich zu verbiegen, und Fortyfoot House wirkte so, als schwebe es einige Zentimeter über dem Boden.