»Hör zu«, sagte ich. »Brown Jenkin wollte dich zu einem seiner Picknicks mitnehmen, und Reverend Pickering ist bei dem Versuch gestorben, dich zu retten.«
»Ja! Das war ihre Lüge«, entgegnete Charity. »Sie hatten gesagt, sie würden nur zwölf Kinder brauchen, um die Hexe während des letzten Aktes der Erneuerung zu ernähren. Aber in Wahrheit benötigten sie Hunderte von Kindern. Zum Schluss gab Kezia auch mich her, weil sie nicht mehr Kezia war. Sie war eine von ihnen ... von den Alten. Sie war meine Mutter, aber sie war auch nicht meine Mutter.«
»Und was ist mit Danny?«, wollte ich wissen, da die Ungeduld allmählich die Oberhand gewann. Brown Jenkin hatte ihn hinüber zur Kapelle geschleppt, und ich musste ihm dorthin folgen, ganz gleich, welche entsetzliche Monstrosität auf mich wartete.
»Sie können ihn retten, David, ja«, sagte sie. »Aber nicht jetzt.«
»Was heißt >nicht jetzt<?« Sie war ein Kind, und trotzdem war ich derjenige, der sich jung fühlte.
»Sie werden ihn an das Hexen-Ding verfüttern«, sagte sie. »Sie können sie nicht aufhalten, nicht hier und nicht jetzt. Sie haben weder die Zeit noch die Mittel dafür. Aber Sie könnten in der Zeit zurückkehren und das Hexen-Ding vernichten, bevor es überhaupt existieren kann. Dann wird Danny nicht aufgefressen werden, weil es nichts gibt, das ihn essen könnte.«
»Was? Wie meinst du das?«
Charity bedeutete mir, zu schweigen. Sie war so blass. »Jetzt ist die Zeit der großen Erneuerung, David. Dies ist für dich die Zukunft, das Jahr 2049. Die Erde ist so vergiftet, dass die Alten endlich atmen und aus ihrem Versteck kommen können. Aber wenn Sie zurückreisen ... in die Zeit, in der Liz ihre drei Söhne zur Welt bringt - ihre Unselige Dreifaltigkeit - die nicht überleben wird, weil es noch zu viel Sauerstoff gibt, zu viele Pflanzen, zu viele Tiere und zu viele Fische ... wenn Sie sich zu dem Augenblick begeben, in dem Liz ihre Kinder zur Welt bringt ... dann können Sie das Hexen-Ding fangen und töten, bevor es auf einen neuen menschlichen Wirt überwechseln kann.«
Sie sah mich ernst an: »Glauben Sie mir. Vertrauen Sie mir.«
»Ich weiß nicht, ob ich das kann.«
»Sie haben gesehen, wie ich schwebe und wie ich fliege.«
»Ja, aber ...«
Sie kicherte. Sie hatte wie eine Erwachsene gesprochen, aber sie war vor allem ein Kind. »Hexen können fliegen. Das wissen Sie aus den Märchen. Aber sie brauchen dazu keinen Besen.«
»Du bist also eine Hexe«, sagte ich und konnte fast nicht glauben, dass ich das sagte. Ich konnte ja kaum glauben, dass ich es glaubte. Aber manchmal hat man keine Wahl. Manchmal muss man die Dinge so akzeptieren, wie sie sich einem darbieten. Dinge, die auf eine unglaubliche Weise unvermeidbar sind, so wie Verkehrsunfälle. Man denkt >es passiert schon nichts!<, aber dann kommt es doch zur Kollision. Das empfand ich auch bei Charity. Ich konnte ihr nicht glauben, aber ich musste es einfach tun, weil sie real war.
Während Charity mit mir gesprochen hatte, hatte Liz sich in dem Rauch bewegt, der sie umgab. Jetzt kam sie auf uns zu, beide Hände erhoben. Die Augen waren völlig rot, als seien die Pupillen mit Blut gefüllt.
Charity drehte sich langsam und würdevoll um, zog ein rosafarbenes Gänseblümchen aus ihrem Haar und hielt es ihr entgegen. »Du besitzt nicht genug Kraft, um mir etwas anzuhaben, Hexe. Weiche zurück!«, sagte sie zu Liz. Diese zuckte vor Verärgerung, aber es war nicht zu übersehen, dass sie nicht näher kommen konnte. Sie fletschte ihre Zähne und wirbelte den Kopf umher, doch Charity blieb vollkommen gelassen und hielt ihr weiter die Blume entgegen.
»Jetzt wissen Sie, warum Kinder Gänseblümchen so mögen«, sagte sie. »Das vertreibt Hexen. Kinder sind den Naturgewalten viel näher als Erwachsene. Sie hören und verstehen Dinge.«
»Ich muss los und Danny holen. Er darf nicht verletzt werden; auch wenn ich später in der Zeit zurückreisen und es verhindern kann. Ich kann es trotzdem nicht zulassen. Selbst nicht dieses eine Mal.«
»Es wäre besser, wenn ich hier bliebe«, sagte Charity düster, »und auf Liz aufpasse. Gegen das Hexen-Wesen, das die Alten zur Welt bringt ... gegen Vanessa Charles kann ich nichts unternehmen. Sie ist so mächtig wie seinerzeit Kezia. Sie wird mich mit einem einzigen Blick töten.«
»Dann muss ich alleine gehen.«
Charity zog an meinem Ärmel. »Sie werden den Alten gegenübertreten, David. Die haben kein Gewissen, keine Bedenken. Sie haben den Verstand von Krokodilen.«
Ich wollte gerade wieder durch das Dachfenster klettern, da drehte ich mich noch einmal um und betrachtete Charity eindringlich. Ihr Gesicht erinnerte mich an jemanden. Sie musste meine Gedanken erraten haben, denn sie begann langsam zu lächeln, um dann mit einer sanften, viel älter klingenden Stimme zu sagen: »Wenn ich ein grelles Licht sähe, dann würde ich an Ihrer Stelle um mein Leben rennen.«
Ich konnte es nicht fassen. »Doris Kemble«, flüsterte ich. »Du bist Doris Kemble.«
»Ich werde eines Tages Doris Kemble sein.«
»Dann war Doris Kemble auch eine weiße Hexe.«
Charity nickte. »Doris Kemble wird meine Enkelin sein. Sie wird nicht annähernd so viel Macht haben wie ich. Lind sie wird sich nicht an mich erinnern. Aber der junge Mr. Billings wird sie beobachten, wie sie mit Ihnen spricht, und er wird sie für eine Bedrohung halten. Er wird Brown Jenkin schicken, damit er sich ihrer annimmt.«
»Also wurde sie von Brown Jenkin getötet?«
»Ja«, sagte Charity. »Und Harry Martin ebenfalls.«
Draußen im Garten hörte ich ein Kind schreien. »Ich muss los.«
»Ich wünsche Ihnen jeden Segen«, erwiderte sie und schwebte ein Stück nach oben, um mich auf die Stirn zu küssen. Dann sank sie weder zu Boden. Ich war so perplex, dass ich fast vergaß, durch das Dachfenster zu klettern.
Ich zog mich hoch und stieg durch das Fenster. Die Dachziegel waren mit einem grauen Schleim überzogen, der aussah wie eine Mischung aus verschiedenen Schwermetallen und verfaulendem Moos. Ich spürte ein Prickeln auf meinem Gesicht und ein Stechen auf meinen Handrücken. Saurer Regen ... fast so intensiv wie Batteriesäure.
Ich balancierte auf der rostigen Dachrinne entlang, immer bemüht, nicht nach unten zu sehen auf die nasse, schmierige Veranda gut zwanzig Meter unter mir. Schließlich hatte ich die Feuerleiter erreicht und umschloss den verrosteten Handlauf. An einigen Stellen war sie völlig zerfressen, und im unteren Drittel fehlten sechs oder sieben Sprossen. Aber wenn Danny und Brown Jenkin den Weg nach unten geschafft hatten, dann würde es auch mir gelingen.
In der Ruine, die einmal die Kapelle gewesen war, zuckten unirdische Lichter, und ich konnte den tiefen monotonen Gesang der Alten hören. Noch ein weiterer Gesang war zu vernehmen, der sich am anderen Ende des Klangspektrums bewegte: ein hoher, fast schon nicht mehr hörbarer Ton.
Ich sah, wie Brown Jenkin Danny über den Friedhof hinter sich herzog, auf dem das Unkraut abgestorben war, und dann zerrte er ihn durch die halb in sich zusammengefallenen Türflügel. Danny versuchte, sich loszureißen.
»O Gott im Himmel, pass auf mich auf«, sagte ich, obwohl ich nicht sicher war, dass es 2049 noch einen Gott gab - wenn es ihn überhaupt jemals gegeben hatte.