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«Nein. «Was soll Tom auch sagen. Er will zurück.»Marc«, sagt er.»Wir sollten langsam zurück. Es zieht zu, ich hab echt keinen Bock, in den Regen zu kommen.«

«Wenn, dann schneit es hier oben.«

Wie immer hat Marc recht. Wenn, dann schneit es, und es sieht inzwischen ganz danach aus. Aber Marc will in die Sonne, die noch immer aus einer unsichtbaren Ecke des Himmels auf den Schnee herabsticht und einen Teil des Bergpanoramas scharf vom Schattendunkel trennt, als wäre die Welt aus zwei Hälften.

Marc biegt nach rechts, hat eine Höhle entdeckt. Unscheinbar öffnet sie sich, aber als sie drinnen stehen, sind sie umgeben von einer erstarrten Flut aus leuchtendem Blau.

«Wow«, ruft Marc.»So sieht das ganze Eis aus, metertief unter uns. So blau! Wahnsinn!«

«Aber echt«, sagt Tom.

Marcs Augen, sieht er, sind hier ebenfalls leuchtend blau, kristallen, als könnte man durch sie hindurchsehen, in ihn hinein, wo es merkwürdig flimmert, dann aber schlagartig dunkel wird. Tom wendet sich ab.

«Die Gletscherspalten müssen auch so aussehen«, murmelt Marc, als sie wieder im schattigen Schnee stehen, überragt links und rechts von den weißen Wänden. Sie gehen minutenlang schweigend. Das Rascheln des Tauwassers, ihre Schritte, ihr Atmen sind die einzigen Geräusche. Die Natur schließt sich um sie und verdichtet sich zu einem Gemäuer.

«Was möchtest du stattdessen tun?«, fragt Tom. Marc setzt seine Sonnenbrille auf.

«Das ist es doch, warum wir Musik machen«, fährt Tom fort,»damit wir mit allem möglichst wenig zu tun haben, weil ohnehin alles seinen Gang geht. Vor uns gab es Generationen von Menschen, nach uns wird es Generationen von Menschen geben, sie werden sich fortpflanzen, sie werden sterben und so weiter, werden versuchen, immer ein bisschen mehr über dieses Universum herauszukriegen, aber sie werden es wahrscheinlich immer nur besser beschreiben können, wie man eine Sinfonie beschreiben kann oder ein Gemälde, aber sie werden nie sagen können, warum es so ist. Das weiß niemand. Nur der, der es gemacht hat. Und weil es niemanden gibt, der es gemacht hat und wir leider die intelligentesten Wesen in diesem Universum sind, so wie’s aussieht, werden wir es nie erfahren.«

«Lebst du gern?«, sagt plötzlich Marc, indem er Tom das letzte Wort abschneidet.

«Wenn ich nicht grade auf einen Gletscher muss …«, sagt Tom lustig. Aber Marc lacht nicht.

«Wir wissen ja gar nicht, wie es wäre, wenn wir nicht da wären«, fügt Tom hinzu.»Außerdem sind wir nicht gefragt worden.«

«Bei einem Schulausflug wird man auch nicht gefragt.«

«Bitte?«

«Ob man mitwill oder nicht. Es ist ein Schulausflug vom Nichtsein ins Sein.«

Tom denkt an die Schulausflüge, an die er sich noch erinnern kann und die er allesamt furchtbar fand, möchte etwas erwidern, aber Marc redet schon weiter.»Wie möchtest du sterben?«, fragt Marc, als hätte er irgendwo eine Frageliste auf einem DIN-A4-Zettel, die er abarbeiten müsste.

«Umfallen und tot sein. Am Klavier am besten oder am Tresen«, sagt Tom.

«Nein«, Marc schüttelt lange den Kopf.»Das ist grauenhaft. Ich wünsche mir eine lange Krankheit, jeden Tag ein bisschen mehr über das Leben zu erfahren, das in meinem Körper verschwindet. Je weniger es wird, desto durchsichtiger wird es. Vielleicht begreift man es dann irgendwann.«

«Ich glaub nicht«, sagt Tom.»Vielleicht gibt es nichts zu begreifen.«

«Vielleicht doch. Man müsste von hinten nach vorn leben können«, sagt Marc.»Rückwärts. Man wüsste von Anfang an alles, um dann, je älter, ich meine, je jünger man würde, das Ganze wieder zu vergessen.«

«Und irgendwann, nach dreißig Jahren, seine Eltern kennenlernen.«

«Ja, warum nicht. Vielleicht würde man sie ganz anders kennenlernen.«

«Man würde zu Tode erschrecken.«

Abrupt, als stieße er an eine Glaswand, bleibt Marc stehen. Tom, der nach einigen Metern ebenfalls innehält, dreht sich um. Marc steht einige Schritte unter ihm, wieder ohne Sonnenbrille, blickt zu ihm herauf, in sein Gesicht, normalerweise ist es umgekehrt, vielleicht liegt es an der veränderten Perspektive, denkt Tom, dass Marc so verwundert aussieht, als entdecke er etwas zum ersten Mal in seinem Gesicht, ein Muttermal, eine Narbe, irgendetwas, oder als suche er etwas, das früher einmal da gewesen ist. (Vielleicht ist es aber nur sein eigenes schlechtes Gewissen, sagt sich Tom, weil er schon wieder an Morgenthal gedacht hat.)

Sie gehen weiter. Marc spricht wieder, als wäre nichts gewesen. Sagt, dass ein plötzlicher Tod ihm vorkomme wie das Lesen eines spannenden Buches, aus dem jemand die letzten Seiten herausgerissen hat. Man müsse doch aber stattdessen die Dinge beenden wie eine Partitur, beispielsweise.

«Eine Partitur«, entgegnet Tom,»ist ja auch eine Partitur und kein Leben, eine Partitur enthält ja eine gewisse Logik, das Leben nicht, behaupte ich.«

«Behauptest du«, sagt Marc, seine Sprache ist kalt und glänzend, schneidet die Luft entzwei.»Was für eine Arroganz«, sagt er,»wie kannst du behaupten, etwas existiert nicht, nur weil du es nicht weißt. Warum behauptest du nicht, die Krümmung der Zeit existiert nicht, denn auch davon weißt du ja nichts!?«

Tom kann sich nicht erinnern, dass Marc jemals in dieser Schärfe zu ihm gesprochen hat. Die Höhenluft, meint er irgendwo gelesen zu haben, macht reizbar. Der Himmel hat sich inzwischen verdickt, schwefelgelb. Vor ihnen leuchtet noch immer das Sonnenfeld, schmaler jetzt, aber warm und verlockend. Angesichts dieser eisiggoldenen Ewigkeit ignoriert er Marcs aggressiven Ton. Ihre Schritte haben sich wieder beschleunigt, Schnee knirscht unter ihren Turnschuhen, und sie stolpern nun häufiger, weil das Gelände steiler, der Untergrund harschiger wird, oder sind es die Beine, die ermüden?

«Während der Saison fahren sie hier Ski!«, keucht Tom, um etwas zu reden. Aber Marc bleibt erneut stehen mit schiefem Kopf, als könne er nicht einsehen, dass jemand über Skifahren auch nur reden will in dieser Stille. Erste Schneeflocken fallen. Marcs Gesicht ist über den Wangenknochen gerötet, die Haut scheint gespannt, die Kiefermuskeln treten hervor, auch die Nase scheint zu wachsen. Er öffnet den Mund, schließt ihn wieder, als hätte er es sich anders überlegt, und stapft weiter. Tom friert längst nicht mehr, sondern schwitzt, spürt den Schweiß und die Schneeflocken, die wie feine Stiche auf seinem Gesicht landen.

«Wie kann man immerzu behaupten, man wüsste alles, wo man in Wahrheit nichts weiß und alles, was man weiß, immer auch umgekehrt sein kann? Jedes Mal, wenn wir den Mund aufmachen, kommt eine Lüge heraus, weil wir genauso gut das Gegenteil behaupten könnten«, sagt Marc.»Wenn wir sagen, wir wollen Musik machen, dann wollen wir eigentlich Holzschränke bauen. Wenn wir sagen, wir lieben die Natur, dann lieben wir den Menschen. Wenn wir sagen, wir lieben den Geist, dann lieben wir das Gefühl. Eine Minute lieben wir den Menschen, in der nächsten Minute hassen wir ihn. Eine Minute halten wir ihn für einen Philosophen, Religionsstifter, für den, der sich das ganze Zeug ausgedacht hat, alles, was wir immer bewundert haben, und in der nächsten Minute sitzt er mit Jogginghose vor dem Fernseher und rechnet seinen Rentenanspruch aus. Einmal denken wir an Liebe, meinen aber die Angst vor der Einsamkeit. Dann denken wir, wir brauchen die Einsamkeit, wir sollten unser Leben auf einem Stein zubringen und die Sterne betrachten, dann wieder denken wir, es geht darum, möglichst viel Bier zu trinken und Frauen zu haben und laute Musik. Einmal lieben wir das Leben, weil es alles ist, was wir haben, und in derselben Sekunde hassen wir es genau dafür. «Marc schnappt nach Luft.