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Tom zieht es vor zu schweigen. Dann sagt er doch noch etwas:»Wir müssen es eben aushalten. «Marc, der den Faden verloren zu haben scheint, sieht ihn lange an.»Wo wir mal hier sind, auf dem Schulausflug sind, unsere belegten Brote essen und so weiter, und irgendwann sind wir wieder daheim. «Aber Marc antwortet nur mit einem eigenartigen Blitzen der Augen, als hätte er schon wieder etwas Falsches gesagt.

Der Schneefall hat sich verdichtet, aber der Himmel ist noch immer unwirklich angeleuchtet wie Flammenrauch. Auch die Flocken, die kaum mehr als solche einzeln wahrnehmbar sind, sondern als wehender Vorhang erscheinen, glitzern in einem ominösen Sonnenlicht, das plötzlich von einer Sekunde auf die andere abbricht. Das Weiß verdunkelt sich. Die Gipfel vor ihnen sinken in stumpfes Grau, um etwas später noch einmal plötzlich aufzuflammen und wieder zu verlöschen. Als richteten sie dort oben einen Scheinwerfer ein, denkt Tom. Der Wind bläst vom Hang herab und hebt den Vorhang der Flocken in die Schräge, übertönt das ständige Rauschen unter ihren Füßen, auch das Knirschen ihrer Schritte. Tom weiß nicht, warum sie weitergehen, wo sie kein Ziel mehr haben.»Es schneit«, sagt er.

«Warum sagst du mir nichts?«, fragt Marc.»Betty hat mir doch alles erzählt. «Die Berge verschwinden, die Erde wird zur Scheibe, weiß, rund, leer. So liegt sie zu Toms Füßen. Eine Sekunde später steht alles wieder da, hinter dem Weichzeichner des Schnees.

«Was meinst du?«, ruft Tom. Der Wind reißt seine Stimme von ihm weg, als gehöre sie nicht zu ihm.

«Du weißt, was ich meine«, Marcs Sprache klingt gedämpft, wie von hinter einer Wand. Plötzlich merkt Tom, der sich die Lippen leckt, dass sein Mund eiskalt ist, feucht. Seine Beine knicken weg, aber er läuft weiter, mit fremden Beinen scheinbar. Und es hebt sich der Boden vor ihren Augen, steigt in weißen Wirbeln in die Luft.

«Du hättest es mir ruhig sagen können«, ruft Marc, aber seine Stimme ist fröhlich.»Ich werde es schon überleben«, ruft er.»Pianisten gibt es wie Sand am Meer, und ein Kreuzfahrtschiff ist natürlich eine einmalige Gelegenheit.«

Tom schließt die Augen, hat den Eindruck, zu taumeln.»Lass uns zurückgehen, dann erklär’ ich dir alles.«

Aber Marc schüttelt den Kopf.»Du brauchst mir nichts zu erklären«, ruft er.»Es versteht sich von selbst. Und mir ist es eigentlich auch ganz recht. Die Band hat ohnehin wenig Zukunft. Verkauft sich zu schlecht. Aber gut, ich hatte eigentlich mal gedacht, das wäre uns nicht das Wichtigste. Hatte ich mich eben getäuscht.«

Marcs Wimpern, sieht Tom, sind eisverkrustet und sein Haar ist von Schnee bedeckt. So muss er selbst auch aussehen, denkt er, streicht sich mit der Hand über den Kopf, über die Jacke, klopft den Schnee ab, der im weißen Gewirbel um ihn herum sofort untergeht.

«Die Musik, das Goldeselchen«, fährt Marc fort, rufend.»Meistbietend verkauft. Herzlichen Glückwunsch!«Ein Lächeln legt sich auf sein Gesicht, dorthin geweht wie eine Feder.

«Du weißt genau, dass es mir nicht um Geld geht!«

«Ach!«

«Im Unterschied zum großen, genialen, vielversprechenden Marc Baldur ist Tom Holler aber halt nicht so genial und vielversprechend, dass er jeden zweiten Tag ein Stipendium hinterhergeschmissen bekommt. «Er schreit, nicht nur, um den Sturm zu übertönen.»Im Unterschied dazu muss Tom Holler leider sehen, wo er sein Geld herbekommt, und wenn er dazu auf ein beschissenes Kreuzfahrtschiff muss. Und ›Strangers in the Night‹ spielen, auch wenn Baldur, der große Künstler, die Nase darüber rümpft!«

Schweigen. Und das Dröhnen des Windes, aber Tom hört nur seine eigene Wut. Aber es kommt keine Antwort. Oder spricht Marc und wird vom Sturm übertönt? Seine Gestalt, die sich gegen den Wind lehnt, ist kaum mehr zu erkennen hinter dem Schnee.

«Warum gehen wir eigentlich immer noch weiter?«, schreit Tom.

«Ja, warum?«, schreit Marc aus dem Schneedunkel.»Vielleicht weil wir nun mal vorwärtsleben.«

«Scheiße!«, ruft Tom, der umgeknickt ist.»Marc, lass uns zurückgehen! Das ist doch langsam idiotisch! Wir haben noch den ganzen Rückweg!«Aber es kommt keine Antwort aus dem Helldunkel.

HEIMWEG ODER: DAS LEBEN IST KEIN CAMPINGPLATZ

Heimwege erscheinen oft kürzer als Hinwege. Vielleicht liegt es daran, dass man auf dem Rückweg den Weg bereits kennt, ihn ermessen kann, anstatt in einer unbekannten, vielleicht unendlichen Distanz zu gehen. Unbekannte Größen sind dem Menschen ein Gräuel. Nicht so dem Tier, dem Hund beispielsweise, der niemals auch nur erraten kann, wo sein Herrchen noch mit ihm hinmöchte, wodurch Fifi gezwungen ist, brav an jeder Kreuzung stehen zu bleiben, mit tropfender Zunge, und in aller Seelenruhe auf die Entscheidung seines Menschen zu warten, rechts oder links. Aber der Hund wartet ja nicht, wenn er wartet. Der Hund steht an der Kreuzung, ohne zu warten, denn der Hund hat keine Ahnung von der Zeit, wie Tom Holler weiß, und ohne Zeit kein Raum, woraus folgt, dass der Hund, der Gassigehfanatiker, sein Lebtag auf der Stelle tritt.

Deshalb, nimmt Tom an, während er durch das dichte pfeifende Weiß stapft, ist der Hund ein solches Gewohnheitstier und deshalb so vernarrt in Gewohnheiten und Rituale, weil sie in die unendliche, aber ausdehnungslose Fläche seines Daseins gewisse Markierungen setzen, Aufstehen, Fressen, Leineholen, Gassi.

Tom beneidet den Hund plötzlich. Hundsein und sich in nachmittäglicher Müdigkeit neben der Heizung dösend zusammenzurollen, keine Uhr, keine Verpflichtung zu haben, unendliche Stunden der Leere, ewige, endlose, horizontlose Fläche der Gegenwart, nichts zu müssen, wie Marc es formuliert hat, und trotzdem da zu sein, das wäre es.

Aber wie?

Kinder herstellen? Blinde Bejahung des Lebenswillens? Ist es nicht dasjenige, was dem Verhalten der Tiere am nächsten käme? Auch Marc und Betty, denkt er auf einmal, werden heiraten, Kinder haben, und ruckartig, tief im Innern spürt er, dass es entschieden ist. Es ist, als fiele in ein unbewegtes Wasser plötzlich ein Felsblock und sänke auf den Grund.

Er wundert sich: Wie laut die unbelebte Natur sein kann, bei allem Schweigen, welchen Lärm sie macht, denkt er, dieses Dröhnen und Heulen und Pfeifen, wie man es sonst nur vom Meer kennt, das endlos geloopte Zischeln eines Hi-Hats. Seine Beine stolpern, als gehörten sie nicht zu ihm, als verfolgten sie einen anderen Weg als sein Kopf, der es eilig hat, denn er weiß, dass Marc unten im Auto wartet. Natürlich wird Marc seelenruhig im Auto sitzen, mit laufendem Motor, in Heizungsluft, wird ihn lächelnd erwarten, wo warst du denn so lange? Denn natürlich wird er auch diesmal schneller sein, wie er immer schneller ist, weil er auch hier noch eine Abkürzung gefunden hat, wo es immer nur geradeaus geht und bergab.

Glücklicherweise geht es geradeaus, denn sehen kann Tom nicht viel außer kaltem Weiß, das beim Atmen in seinen Mund drängt. Erst auf der Zunge schmilzt es. Trotzdem wird Marc längst unten auf ihn warten, mit spöttischem Lächeln, weil er letztlich immer ein spöttisches Lächeln für ihn parat hatte. Weil er nicht nur schneller und zielstrebiger und sportlicher ist, weil er auch immer alles besser weiß, alles besser kann. Die Musik, wie das Leben im Allgemeinen. Wenn Tom eine ganze Stunde über der Auflösung eines Akkordes brütet, am Klavier, so schreibt ihn Marc innerhalb einer Sekunde aufs Papier. Wenn Tom eine Idee hat, so ist es mit Sicherheit eine, die Marc schon hundertmal verworfen hat.

«Wo warst du denn so lange?«, wird er fragen mit Eisverkäuferlächeln. Und Tom wird antworten, ruhig und beherrscht und freundlich, indem er ein paar Worte an ihn richten wird, die er mit» Lieber Marc «einleiten will.»Lieber Marc«, wird er mit gespielter Überlegenheit zu Marc sagen, und dass er spazieren gegangen sei im Schneegestöber, weil er gerne spazieren gehe. Und dass Marc sich bitte nicht so anstellen möge, wegen des Lebens. Keinem ergehe es anders, nur einige Leute stellten sich einfach mehr an als andere, und er wird hinzufügen, dass immerhin schon seit Anbeginn des Lebens auf der Erde gelebt und gestorben werde, und nur wo gestorben werde, dort werde auch gelebt. Wir sind eben da, wird er fortfahren, und demnach müssen wir uns damit abfinden, wie alle anderen auch. Es betrifft ja nicht nur uns, sondern unter selbigem litten gleichermaßen John Lennon und Herr Mozart, Homer und Glenn Gould, und die Hauswirtin unten mit dem rosaroten Putzlappen betreffe es auch. Überhaupt sei dieser Tod wirklich ein alter Hut. Und dass es keine Begründung für nichts gebe, wird er nach einer kurzen wirkungsvollen Pause neu ansetzen, das Fehlen irgendeiner Begründung, wird er langsam und gemessen sagen, sei ebenfalls ein alter Hut. Übrigens gehe es auch ohne Begründung. Das Leben sei eben kein Bürokratenamt, in dem für alles und jedes ein Begründungszettel ausgefüllt werden müsse. Das Leben sei eben ebenso sinnlos wie die Musik. Unsinnig, scheißunnötig, aber liebenswert.