Als sie am späten Nachmittag zwischen Terrakottafiguren, Töpfen und Pflanzen in einem Gartencenter in der Provinz Avellino umherging, war Frau Bonardi schon weit. Betty beobachtete die hinkende Silhouette Mariannas, den hageren Umriss Brunos im tiefen Gegenlicht, die jetzt vor einer aufrecht stehenden Hasenfigur verharrten, dann auf ihre breiten Einkaufswägen gestützt weiterzogen. Hinter dem ausladenden Freigelände des Gartencenters erstreckte sich in Richtung Westen, der Autobahn nach Neapel folgend, ein riesiges Areal mit Einkaufshallen, Möbelcentern, Supermärkten, flankiert von bunten Schildern, auf denen sich das Licht fing.
Die Sandris hatten schon, bemerkte Betty, als sie sich näherten, beide Wagen vollgestapelt, konnten sich aber nicht zwischen zwei beinahe identischen Terrakottakübeln entscheiden. Was sie denn meine, die so abwesend erscheinende Schwiegertochter? fragte Marianna. Den linken oder den rechten?
«Tja«, sagte Betty und dachte daran, Alfredo anzurufen, der auf das Auto wartete.»Schwierig«, sagte sie.»Sie sehen ziemlich gleich aus.«
«Aber nein!«, empörte sich Marianna, der linke sei ganz anders als der rechte, erstens drei Zentimeter kleiner, außerdem habe er, im Gegensatz zum rechten, um den Sockel einen Fries mit antikisierendem Muster, während der andere, eher schlicht gehalten sei und so fort.
Betty nickte und legte den Kopf schräg. Aus dem Augenwinkel sah sie Bruno, der mit vorgeneigten Schultern dastand und offenbar angestrengt in sich hineinhorchte, als hätte er in sich etwas verloren.
«Tja«, sagte Betty,»ich würde den linken nehmen«, deutete aber auf den rechten. Brunos Kopf wackelte, obwohl sein Körper stillstand.
«Welchen meinst du denn jetzt?«, fragte Marianna voll wirklicher Verzweiflung. Der linke, obgleich weniger schlicht, sei neun Euro billiger, gab sie zu bedenken. Bruno schwieg noch immer. Jedes Wort Mariannas schien in ihm einen blechernen Widerhall auszulösen, von dem jenes Kopfnicken herrühren musste, das Betty an die politisch unkorrekten Krippemohrenfiguren in den Kirchen ihrer Kindheit erinnerte, die um ebenjener Kopfbewegung willen von den Gläubigen mit Spendenmünzen gefüttert wurden.
«Nick doch nicht zu allem!«, rief Marianna.
Bruno sah sie erstaunt an, nickte und schwieg.
Eine halbe Stunde später hatte Marianna sich für den billigeren, antikisierenden Kübel mit Fries entschieden und die gesparten neun Euro in einen heruntergesetzten, aufrecht stehenden Hasen aus Ton investiert, der, wie sie sich vorstellen konnte, auf dem hinteren Gartenmäuerchen, gegenüber vom Küchenfenster, perfekt zur Geltung käme. Bruno hatte auch dazu genickt.
Während sie gemeinsam die Gegenstände in den Polo stapelten, fragte sich Betty, ob die Sandris aufhören würden zu kaufen, wenn Sohn und Schwiegertochter endlich ein Enkelkind herstellten. Oder ob sich ihre Kauftätigkeit in solch einem Fall auf Enkelkinderzubehör umlenken würde. Kinder und Kaufen, dachte sie, während sie den Hasen gegen das Polster der Rückbank drückte, K. und K., sie sind die beliebtesten Waffen gegen den Verfall. Wie oft hatte sie es erlebt, dass einem Sterbenden auf der Krebsstation im letzten Augenblick noch neu gekaufte Dinge ans Bett gebracht worden waren, allerlei Kleidung, elektronische Geräte, Schmuck und das Kleinkind, bevor der Beschenkte kurze Zeit, wenige Tage, ja oft Stunden später verstarb und die nagelneuen Dinge um ihn herum verwaist zurückließ. Der nagelneue DVD-Player, mochte man aber gedacht haben, und das Kind, solange sie da sind, stirbt keiner!
Betty verstaute die kleine Yuccapalme hinter dem Fahrersitz. Sie drückte den Hasen ins Polster, damit er nicht umfiel und zerbrach. Sie wickelte einen alten Schal um den Hasen, stopfte einen Pullover zwischen zwei Pflanzkübel, rückte ein Unkrautvernichtungsmittel zurecht und dachte vage an Kinder. Spielende Kinder mit leeren Gesichtern im Sandkasten der Großeltern. Das Haar weiß im gleißenden Sonnenlicht. Sie dachte an Alfredo, weil Gedanken flink sind, abprallen wie Kugeln an harten Wänden und unberechenbare Richtungen einschlagen. Als sie das Telefon aus ihrer Hosentasche grub, um ihn endlich anzurufen, klingelte es.
Ein Lüftchen rauschte elektronisch verstärkt an ihrem Ohr, und vom anderen Ende der Verbindung klang gedämpfter Verkehrslärm, Hupen, Großstadt, während Marianna ihr eine kleine Blechgießkanne reichte.»Ein Geschenk«, sagte sie erklärend,»ein Geschenk für irgendjemanden, wenn man mal ein Geschenk braucht. «Betty, das rauschende Telefon am Ohr, warf die Gießkanne auf den Sitz, drängte sich an der erstaunten Schwiegermutter vorbei auf die Weite des Parkplatzes, wo sie breitbeinig stehen blieb, die Sandris im Rücken. Vor ihr das Netz der weißen Parkmarkierungen. Seine Regelmäßigkeit erschien ihr beruhigend auf einmal.
«Hallo, Tom«, sagte sie.
«Hallo, Betty«, sagte er. Rauschen. Das Dröhnen eines Martinshorns. Atmen in der Leitung und das Klacken einer Münze.
«Bist du in der Telefonzelle?«, fragte sie.
«Ja, mein Handy«, sagte er und zögerte,»mein Handy ist alle.«
«Man …«, sagte sie.»Ich verstehe dich schlecht. Der Empfang ist schlecht.«
«Ja. «Dann schwieg er. Sie hörte Stadt um ihn herum, Glockengeläut jetzt.
«Wo bist du?«, fragte sie und starrte in den Himmel, der an den Rändern schon vom Abendrot getönt war.
«Rom«, sagte er.»Ich bin in Rom.«
«Rom«, wiederholte sie.»Schön. «Sie hörte ihr eigenes Atmen, elektronisch verstärkt.
«Am Dienstag sind wir in Neapel«, sagte er. Wieder ein Münzklacken.
«Ja.«
«Wir spielen um acht im Teatro August, Teatro …«
«Teatro Augusteo, ich weiß. «Es wurde geschwiegen, und während sie auf diesem riesigen Parkplatz den Kopf in den Nacken legte und sich langsam um die eigene Achse drehte, klein gegen die kahlen Berge, die Schilder, den Himmel, wunderte sie sich, dass sie sogar dieses Schweigen erkannte, wie viel mehr diese Stimme, nach all den Jahren. Etwas tiefer vielleicht, aber zweifellos dieselbe. Der Polo und der an ihn gelehnte Schwiegervater tauchten vor ihr auf. Marianna, die mit kippendem Schritt den Einkaufswagen zurückschob.
In Rom wurde noch immer geschwiegen.
«Tja«, sie räusperte sich. Streckte ihren Rücken, wuchs in den Himmel.»Wenn uns nichts einfällt, legen wir wohl wieder auf.«
«Nein«, sagte er. Glockengetöse.»Du hast dich nicht verändert.«
«Du auch nicht«, sagte sie. Stellte fest, dass sie lächelte. Ihr Lächeln aber traf auf Marianna, die zurücklächelte und ihren Anorak glatt strich.
«Also gibt’s noch Karten?«, fragte sie, um auf den Punkt zu kommen.
«Ich lass dir eine zurücklegen. Aber es ist schrecklich.«
«Das hab ich mir schon gedacht«, sagte sie.»Am besten am Rand, dann kann ich wieder gehen, wenn ich es nicht aushalte. «Sie hörte, dass auch er lächelte.
«Du musst wenigstens draußen auf mich warten«, sagte er.
«Okay«, sagte sie.
«Ich bin der am Klavier.«
«Und ich bin sehr alt und werde ein rotes Kleid tragen«, sagte sie und hielt es sofort für einen misslungenen Scherz. Das Glockengeläut in der Leitung. Ein Papiertaschentuch wurde von einer Windböe über den Asphalt getragen, über die weißen Markierungslinien, bis es sich am Stahlfuß eines Abfalleimers verfing. Ein Räuspern, Atmen in ihrem Ohr.
«Auf welchen Namen?«, fragte er.
«Was?«
«Die Karte.«
«Morgenthal«, sagte sie.»Betty. «Sie wusste nicht, ob er wusste. Wahrscheinlich konnte er es sich denken, aber sicherheitshalber fügte sie hinzu:»Ich muss Schluss machen, meine Schwiegereltern warten, wir sind einkaufen.«