«Okay«, sagte er, bog die letzte Silbe des Wortes in die Höhe.
«Also dann«, sprach sie, aber etwas hielt ihr Ohr fest. Eine Schnur durchs Telefon, die sich spannte, zwischen ihr und dieser Stimme, diesem Schweigen.
«Bis dann also«, sagte er.
«Bis dann«, sagte sie,»und gib dir bloß Mühe. «Sie riss sich los und legte auf.
Tom aber, den Hörer in der Hand, sah gedankenleer durch die verkratzte Scheibe der Telefonzelle in die Ewige Stadt. Die Schlucht der vierspurigen Straße, die sich tief zwischen die Steilwände der Palazzi grub. Die Kathedrale gegenüber, hoch und steil, warf ihr Geläut bis in den Himmel. Und hinter den Kratzern und stumpfen Flecken der Plexiglasscheibe zogen Menschen vorüber, deren Mäntel und Einkaufstaschen an der Tür entlangstrichen. Tom wartete und schaute, bis sich der Abend auf die Dächer gesenkt hatte. Dann fiel ihm ein, was zu tun war: den Hörer auf die Gabel legen.
Was er gemacht habe? fragte, ohne ihn anzusehen, Diedrich, nachdem er lange Zeit geschwiegen und das Basthütchen seines roséfarbenen Cocktails zwischen den Fingern gedreht hatte.
«Eingekauft«, sagte Tom, der sicherheitshalber einen Barhocker zwischen sich und seinem Kollegen frei ließ.
«Aha«, sagte Didi, offensichtlich noch immer beleidigt.»Und was?«, fragte er.
«Klamotten«, sagte Tom. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er die Tüte irgendwo hatte stehen lassen, wahrscheinlich in der Telefonzelle.
«Was hab ich dir eigentlich getan?«, fragte Didi und sah über Toms Kopf hinweg in das plüschige Dunkel der Hotellounge. Ein schmerzhaftes Lächeln zog an seinem Mundwinkel. Tom betrachtete sein Gesicht. Es sah jung aus, noch immer, weich und kaum beschattet von Bartwuchs, auch auf Händen und Armen spross höchstens Flaum. Das lockige Haupthaar wurde von Diedrich täglich gewaschen und gefönt und mit Gel verschönert. Tom Holler, wann immer er an seinen Saxofon spielenden Kollegen dachte, stellte sich diesen mit Sonnenbrille im Haar vor, obwohl er nie eine trug. Mit Sonnenbrille über der etwas glänzenden Stirn, die schnell dicke Falten warf, so als dächte er beständig über etwas nach, was er, Hollers Ansicht nach, in Wahrheit niemals tat.
«Ist irgendwas an mir?«Diedrich betastete sich die Wange.
«Nein, nein, nichts«, sagte Tom und winkte dem Barmann. Eigentlich hatte er sich entschuldigen wollen, ließ es nun aber sein, da ihn diese gerunzelte Stirn, über die eine ins Haar geschobene Sonnenbrille gehörte, schon wieder aufregte. Auch regte ihn auf, dass ihn Diedrich mit einer Kunsthistorikerin hatte verkuppeln wollen. (Wenigstens keine Theaterwissenschaftlerin, dachte er andererseits.) Er schwieg und bestellte sich Bier. Erst als das Glas schon wieder leer war, erinnerte er sich, dass er auf Alkohol hatte verzichten wollen, ja geglaubt hatte, in seiner Lage auf Alkohol verzichten zu müssen, aber schon stand ein zweites Bier vor ihm da. Gedämpfte Pianomusik.
«Wenn du nicht reden willst, auch gut«, sagte Didi.
«Du kannst ja reden«, schlug Tom vor. Eine dunkle Wolke gut angezogener Frauen strebte dicht an ihnen vorüber in die Tiefe der Bar. Diedrich, der der Frauenwolke hinterhergesehen hatte, schraubte sich auf seinem Drehsessel abrupt zu ihm hin.»Warum hast du eigentlich seit Tagen diese miese Laune?«, fragte er.
«Ich hab gar keine schlechte Laune«, sagte Tom. Ich bin nicht schlechter, sondern guter Laune, wollte er anfügen, unterließ es aber, da es zu weit geführt hätte. Ich bin nachgerade euphorisch, gemessen an meiner Gemütsverfassung in den letzten Monaten, hätte er sagen können, außerdem: Seit wann interessierst du dich für die Gemütsverfassungen anderer Personen, du, der du dich zeitlebens für nichts als dich selbst und die Lage deines Haupthaares interessiert hast? Stattdessen sagte er:»Erinnerst du dich an Betty? Betty Morgenthal?«
Diedrichs Stirn schob sich in dicke Falten.
NACHT
Als er an die Zimmertür geklopft hatte, meinte er, die Stille zu hören, die unter dem Türspalt hervorkroch. Dann das Umblättern einer Seite in ihrem Buch, das Zurückstreichen ihres Haars, ihr Atmen. Er klopfte wieder, lauter diesmal. Irgendetwas stürzte im Zimmer zu Boden, ein feiner Laut.
«Ja?«
Die Tür knarrte, der kegelförmige Lichtschein drängte sich durch die Öffnung, kroch unter Toms Füßen hindurch auf den Flur. Bettys Gesicht lag halb im Dunkeln, sie war offensichtlich in diesem Moment vom kleinen Schreibtisch aufgestanden, wo eine Schirmlampe brannte, Hände in den Hosentaschen. Jetzt bückte sie sich, um den Gegenstand aufzuheben, der hinuntergefallen war, einen Kugelschreiber, den sie auf die Tischplatte zurücklegte, bevor sie sich wieder vor ihn hinstellte. Er rollerte über das schrundige Holz, bis er in einer Mulde liegen blieb. Draußen vor dem Fenster hatte sich der Schneefall wieder verdichtet, beglänzt vom Schein einer Straßenlaterne.
«Ihr wart lange …«, der Satz starb in ihrem Mund. Bettys Kopf kippte zur Seite, ihr Blick drängte sich an Tom vorbei, durch den Türrahmen, suchte nach Marc. Dieser Blick, weit und starr, der dann mit einem ungläubigen Wimpernschlag die Leere zu schlucken schien.
Die endlosen Stunden aus Nacht, die sich anschlossen, waren eine dunkle Masse ohne Unterteilung. Es war eine einzige Stunde, die sich dehnte, dünner, unwirklicher, durchscheinender wurde, ohne aber jemals abzureißen. Bis der Morgen sich darüberlegte.
Obwohl Tom ihr erklärt hatte, dass in der Nacht wegen starken Schneefalls nicht mehr geflogen werden konnte, hatte Betty darauf bestanden, nochmals zur Polizeistation nach Samedan hinüberzufahren, von der Tom eben zurückgekehrt war. Da das Auto noch immer auf dem Parkplatz an der Zugstation Morteratsch stand, blieb ihnen nichts übrig, als die Wirtin zu bitten, die ohnehin horchend an der Treppe stand. Sie wischte sich die Hände an den Hüften ab, während sie ihnen voranging, drückte sich eine Locke am Hinterkopf fest, erinnerte daran, dass sie gleich gewarnt habe, das Betreten, um Gottes willen, der Gletscher sei auf eigene Gefahr, das Wetter unsicher, Turnschuhe ohnehin die falsche Ausrüstung — sie unterdrückte ein Aufstoßen, indem sie sich eine Faust vor den Mund hielt —, aber er müsse sich ja wohl erst umziehen (was er nicht tat), er sei durchnässt, sehe furchtbar aus.
Auf der Polizeistation hatte das Personal gewechselt. Eine junge blonde Polizistin, die bereits durch ihren Kollegen von der Aktenlage unterrichtet worden war,»hielt die Stellung«, wie sie es formulierte mit einem Akzent, der noch kantiger, stockender war als derjenige der Zimmerwirtin. Nein, sagte sie, und halb schloss sie die Augen, unmöglich sei es, bei diesem Wetter zu fliegen, es sei ohnehin aussichtslos, unverantwortlich, sobald das Wetter abflaue, natürlich, aber vorher nicht, erklärte sie. Betty, die mit der Hüfte am Schreibtisch lehnte, wiederholte diese Worte, als verstünde sie deren Sinn nicht,»vorher nicht«, sagte sie zweimal, dreimal, dabei trommelte sie mit den Fingerknöcheln auf die Tischplatte.»Was soll das heißen, vorher nicht?«, schrie sie. Tom hatte sie niemals schreien hören. Sie wandte sich ab, Arme eng um den Oberkörper verschränkt, als wolle sie vermeiden auseinanderzufliegen, lief zum Fenster, stellte sich vor die spiegelnde Scheibe, drehte sich kurz darauf wieder um, wobei die Bewegung von ihrem Kopf ausging und sich wie eine Welle auf ihren Körper übertrug. Und als wisse sie plötzlich, was zu tun sei, ging sie auf die Polizistin zu, die damit beschäftigt war, auf dem großen Schreibtisch lose Blätter und Akten zu sortieren, stellte sich nah vor sie hin, löste die rechte Hand vom Oberkörper, holte aus und schlug ihr ins Gesicht, dass der Kopf der Beamtin zur Seite flog und eine ihrer Haarsträhnen durch die warme Luft schwebte.
In einem der Heizungsrohre tönte ein Stakkato von Klopfgeräuschen und verklang. Dann Stille. Es roch nach Lackfarbe. Ein Stapel Zeitungen lagerte neben der Eingangstür. Drei beige gepolsterte Stühle auf dem abgeschabten PVC. Hinter dem Kopf der erstaunten Polizistin, die nun eine Hand an die Wange gelegt hatte, hing ein Tierkalender, die Fotografie eines Schimpansen. Aktenordner in einem hellen Regal und eine Gießkanne, bedeckt mit Grünspan. Aber keine Zimmerpflanzen. Wofür, zum Teufel, mochten sie eine Gießkanne brauchen, dachte Tom, wenn sie keine Pflanzen haben. Keine einzige Pflanze im kahlen Beige des Zimmers, aber eine Gießkanne.