Ein Laut sprengte die Stille. Ein Schluchzen, Stöhnen. Betty war an der Wand zu Boden gesunken, die Stirn lag in ihren offenen Händen, die Innenflächen nach oben gebreitet wie ein leeres Gefäß.
Tom wollte zu ihr gehen, die wenigen Meter PVC-Boden überwinden, sie trösten, ihren schluchzenden Körper in den Arm nehmen, ihr sagen, dass alles nicht wahr sei, aber er konnte sich nicht bewegen. Als er später doch neben Betty kniete, wusste er nicht, wie er dorthingekommen war, es war, als wäre etwas, dieser Weg über den PVC-Boden, aus seinem Leben geschnitten worden. Er beugte sich zu ihr, steckte seinen Arm zwischen ihren Rücken und die Wand, drückte die Finger auf Höhe der Schulter in ihren Wollpullover, bog ihren Kopf an seinen Hals, aber als er ihn losließ, schnellte er zurück. Mit beiden Händen wischte sie sich über das Gesicht, wie um außer den Tränen noch etwas anderes, dieses Gesicht, fortzuwischen. Sie stand auf und verließ ohne ein Wort die Amtsstube.
«Wo willst du hin?«
Der Wagen der Zimmerwirtin sprühte sein Scheinwerferlicht in die Nacht. Aber Betty stieg nicht ein, sondern stapfte am vorderen Kotflügel vorbei, wobei sie ihre Hand über den Lack schleifen ließ wie einen Gegenstand, der nicht zu ihr gehörte.
«Betty!«
Offensichtlich hatte sie keinen Plan, entfernte sich aber von den wirbelnden Scheinwerferkegeln, lief immer weiter ins Dunkel. Ihr roter Pullover leuchtete hinter dem Schneeschleier kurz auf. Sie torkelte wie betrunken.
«Wo willst du hin?«, er fasste sie bei der Schulter.
«Ihn suchen! Lass mich.«
Wahrscheinlich war es das, dachte er später immer wieder, was sie an ihm hasste: Seine Vernunft, die sie davon abhielt, in die Nacht von Samedan hinauszugehen, sich zu verirren, umzukommen, sein vernünftiges, erbsenzählerisches, alltägliches, beamtisches Handeln in dieser Situation, sich nicht den Kopf an der Betonwand der Polizeistation einzuschlagen, sich nicht die Haare auszureißen und in den Schnee zu rennen.
Sie hielt seinen Jackenkragen fest, zog ihn zu sich, stieß ihn dann zurück, beides gleichzeitig, er sah ihre Zähne hinter den aufgerissenen Lippen, ihren Kopf, der über ihren Hals nach hinten kippte, dann groß wurde und nach vorn an seine Stirn schlug. Ihr Atem keuchte dichte Wolken in die Nacht, war vom Schnee kaum zu unterscheiden. Und er hielt sie fest, obgleich er kein Recht dazu hatte, drückte ihre Arme an ihren Oberkörper, streichelte ihren Kopf, presste ihn an seinen Hals, und allmählich veränderte sich ihre Kraft, formte sich um in eine Umarmung, ein verzweifeltes Klammern, sie schnaubte an seinem Hals, feuchte Wärme kroch auf sein Schlüsselbein, Rotz, Tränen und Spucke, und sie hielten sich, bis allmählich die Kraft in ihr schwand, ihr Körper leblos wurde wie etwas, das sich nur aus Versehen in seinen Armen befand.
Als der Wagen durch den Schnee zurückschlich, nahm Tom auf der Rückbank Bettys Hand. Sie ließ sie ihm, aber zufällig, so schien es, weil sie gar nicht bemerkte, wo sie lag.
Der Morgen drängte sich ohne Vorankündigung ins Zimmer. Im Flur unten klingelte ein Telefon. Die schlurfenden Schritte der Hauswirtin.
Betty durchquerte das Zimmer, ohne Tom anzusehen, so als ginge das alles nur sie etwas an, während ihre Hände den Pullover tief über die Hüften hinabzogen. Vielleicht hatte sie auch einfach vergessen, dass er mit ihr in diesem Zimmer saß, wie sie es womöglich die ganze Nacht über vergessen hatte. Das Erstaunen, das in ihrem Blick lag, als er die Treppe hinunterstieg, in Richtung Diele, wo Betty und die Zimmerwirtin vor dem Telefon standen, als erwarteten sie von ihm noch irgendeinen Zusatz, eine Berichtigung, schien sich mehr auf seine, Toms, Anwesenheit zu beziehen als auf die Nachricht, dass man Marc gefunden habe.
MORGEN (NUN WILL DIE SONN’ SO HELL…)
Warum sie in Krankenhäusern immer Aquarien hatten, fragte er sich. Warum diese Krankenhausaquarien immer gegenüber von gepolsterten Besuchersesseln aufgestellt sein mussten. Warum die Krankenhausaquarienfische identisch waren mit allen anderen Fischen auf der Welt, obwohl sie tagaus, tagein von den verweinten Augen Hinterbliebener oder Sterbenskranker angestarrt wurden. Warum sie trotzdem schimmerten und farbenprächtige wendige Streifen durchs grünstumme Wasser zogen, wie es nur je Aquarienfische vermochten.
Warum sie ihn ins Krankenhaus gebracht hatten. Warum sie ihn hier besuchten. Warum sie ihn überhaupt besuchten.
Er antwortete sich: Wenn er in einem Krankenhaus ist, antwortete er sich, dann kann es so schlimm eigentlich nicht sein. Wenn man ihn besuchen kann. Wenn er hier auf ihren Besuch wartet. Wenn sie Besucher sind wie all die anderen hier, die durch die Flure gleiten, mit ihren zellophanverhüllten Blumensträußen, den eingewickelten Saftflaschen, Kleiderkoffern, antwortete er sich, dann ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.
Aber sie hatten nichts mitgebracht.
Ein orangegestreifter Fisch schwebte nah an die Glasscheibe heran, blieb sekundenlang bewegungslos stehen und betrachtete ihn nachdenklich. Dann kamen sie. Ein Polizeibeamter und ein Arzt. Es war ein kleines Krankenhaus, aber Tom hatte das Gefühl, nie mehr jemals den Weg zurückzufinden durch diese lackierten Gänge, Klapptüren, Aufzüge, Treppen, Kellerflure, durchzuckt von Neonlicht. Verhüllte Betten, die an ihnen vorbeigeschoben wurden, Betten, die aus Aufzügen ragten mit baumelnden Pappschildern.
Sie näherten sich einer Wölbung unter einem grünen Laken. Das Laken wurde zurückgeschlagen, Tom wusste nicht, von wem, vielleicht hob es sich von selbst, legte einen Körper frei, ein metallener Laut fuhr in die Stille, irgendein Besteck, das auf Blech traf. Tom spürte den Impuls, sich die Ohren zuzuhalten, vorwurfsvoll fixierte er den Polizeibeamten, als wäre der Lärm dessen Schuld. Fragender Blick zurück. Und fragender Blick zur Bahre, als wolle der Beamte Verbindungslinien ziehen zwischen ihm und dem Körper, der dort ausgestreckt lag. Schmal, bleich, kein Mensch. Die Lippen geschlossen, aber nicht ganz, sondern durchschimmert von der Reihe der Zähne. Sein Haar liegt leblos, dachte Tom, zu einer seltsamen Frisur gerichtet, die sein Freund niemals hatte. Die Haut ist nicht aus Haut, sondern tatsächlich wächsern, wie man sagt. Tom musste umgehend an Madame Tussaud oder Truffaut denken und an die Frage, was in aller Welt Menschen davon haben, als Wachsleichen in England ausgestellt zu sein. Gleichzeitig oder um Sekundenblitze versetzt, sagte er sich, dass es verrückt sei, jetzt an Madame Tussaud oder Truffaut denken zu müssen. Wieder betrachtete er die eigenartige Frisur des Toten, denn das Haar, obgleich es noch wuchs, wie gesagt wurde, das Haar war es, das ihm am leblosesten erschien. Es hatte seine Farbe verloren, flachsartig und steif lag es in einer erstarrten Welle über der Stirn. Darunter, auf der Wange, der Lichtpunkt eines Strahlers. Tom verfolgte ihn mit den Augen zurück bis zum Chromgestell unter der gekachelten Decke und erinnerte sich plötzlich an irgendeinen Nachmittag, an dem sie gemeinsam, Tom und Marc, in der Ikea-Lampenabteilung gewesen waren, um Lampen für Notenpulte zu kaufen, und aber nichts gekauft hatten.
Der Lichtpunkt auf seiner Wange. Tom erschrak über die Kälte, ein eisiges Licht, als die Außenseite seiner Hand auf der Wange des Körpers lag und der Kopf des Körpers und das erstarrte Wellenhaar sich kaum merklich unter der Berührung bewegten, was ihn erstaunte.
«Nein«, sagte er. Und noch maclass="underline" »Nein. «Er lachte etwas. Verhalten, bemühte sich, wenn er schon lachen musste, es dann aber leise zu tun, an solchem Ort.