Выбрать главу

Der Polizeibeamte räusperte sich. Vielleicht, um sein Lachen zu übertönen. Sah fragend in sein Gesicht, als hätte er in einem unverständlichen Idiom zu ihm gesprochen.

«Er ist es nicht«, sagte Tom. Jetzt vollkommen ernst. Und rückwärts entfernte er sich von der Bahre, von Betty, dem Polizeibeamten, beschrieb einen Bogen, beschleunigte den Schritt, bis er mit dem Rücken an eine Wand knallte.

Als er ins Freie tritt, weht Frühlingsluft in sein Gesicht. Vogelgesang. Blauer Himmel biegt sich hoch über dem Land. Ein dunkler Wagen summt auf dem Parkplatz vorüber, hält an und entlässt eine Familie voll lachender Kinder mit Blumensträußen. Die Dächer im Tal glänzen metallisch unter dem neuen Tag, feucht von tauendem Schnee. Und eine große scharfkantige Helle hat die Konturen aller Dinge aus dem Hintergrund getrennt. Ein Mahlerlied fällt ihm ein, das er mit Betty gespielt hat:»Nun will die Sonn’ so hell aufgehn. «Er muss die Augen zukneifen, zu viel Licht, als hätte er eben eine Sonnenbrille abgesetzt. So ist es also, denkt er, während er in den hohen, klaren, lichtgetränkten Mittag blinzelt, so ist es, ein Gefühl tatsächlich, als hätte er die Welt bisher immer durch die getönten Gläser einer Sonnenbrille betrachtet. Ein zusammengefaltetes Kleiderhäufchen hat man ihnen gegeben. Marcs Jeans, sein Hemd und seinen dunkelblauen Wollpullover, an dem noch einige blonde Haare hängen, die Unterwäsche nicht. Warum nicht? Auch die Jacke nicht, weil sie fehlt, wird berichtet, weil von Marc offensichtlich ausgezogen, aus welchen Gründen auch immer. Über die Unterwäsche wird nicht gesprochen. Die Unterwäsche wird übergangen, warum auch immer, und Tom muss wieder und wieder an Marcs Unterwäsche denken, als er neben Betty durch das helle, sonnenbeschienene Samedan läuft, wo das Licht zwischen den Häuserwänden sie wärmt wie glitzerndes Badewasser.

Ein Glück ist es, ein Glücksfall, möchte man sagen, denkt er, dass Marc den Autoschlüssel nicht in der Jackentasche aufbewahrt hat, sondern in der Hose. Er befindet sich in einem kleinen durchsichtigen Plastiktäschchen, zusammen mit ein paar Geldmünzen, einem klebrigen Bonbon und einem winzigen Notizbüchlein. Es liegt oben auf dem zusammengefalteten Kleiderhaufen, Marcs Kleider, denkt Tom, waren nie so ordentlich zusammengefaltet. Und warum sie ihn überhaupt ausgezogen haben, fragt er sich plötzlich.

Damit ihm nicht kalt wird. Damit er es warm hat.

Betty läuft neben ihm lautlos, nur die Tüte mit Marcs Sachen knistert im leichten Frühlingswind. Es ist Mittagszeit, und in den Häusern entlang des Gehsteigs wird gegessen, Geschirr klappert, ein Radio spielt. Und alle Dinge und Töne der Welt stehen direkt vor ihm da, es gibt keine Entfernungen mehr: Die Berge, die Felskämme, die Häuser, Bettys Tüte, die weiß leuchtet, seine eigene Hand, die an seinem Körper hinabbaumelt, alles ist unterschiedslos da, alles blendet in grellen Farben, die Fluchten der Perspektive haben sich verkürzt, alles steht neu und frisch direkt vor ihm, in ihm, kratzt mit den Konturen in seinen Augen: eine neue, wirkliche Welt, die nichts anderes ist als eine überdeutliche, überzeichnete Attrappe.

«Sag doch etwas!«Er hat eigentlich flüstern wollen, aber es ist ein Schrei, der seinen Körper verlässt. Er schüttelt Betty an den Schultern, als müsste durch die heftige Bewegung ein Wort aus ihrem Hals hervorkommen.

Wenn gestorben wird, müssen Formalitäten erledigt werden. Der Tod ist keine Privatangelegenheit, sondern ein Belang von öffentlichem Interesse. Es müssen Unterschriften geleistet, Urkunden ausgestellt werden. Kugelschreiber kratzen über Papiere, Stühle rücken und reißen tiefe Löcher in die Gehörgänge. Lichter blitzen auf, sausen durch die Luft, rauschen, und das Geknister von Papier explodiert zu einem Flackern.

Ob er sich im Krankenhaus hat untersuchen lassen. Ob alles in Ordnung sei. Wie er sich fühle, ob er vielleicht unter Schock …»Neinnein«, sagt Tom.»Neinnein. Ich weiß nur jetzt, wie es läuft, es ist, sehen Sie, es ist gar nicht so …«Er betrachtet seine Hand, die auch schon wieder da ist und auf dem Tisch liegt, eine Behauptung von Hand.»Es ändert sich fast nichts. Nur die Dinge, sehen Sie, die Dinge sind alle näher. Der … der Raum schmilzt unter den Dingen zusammen. Sie sind gar nicht so weit voneinander entfernt, sie sind alle gleichzeitig da. Das wusste ich vorher nicht.«

MORGEN IST AUCH EIN TAG

Es ist ihm ein gewaltiges Rätsel, wie Betty alles ertragen hat. Dies ist sein zweiter Gedanke, als sich der Schlaf in seinem Kopf auflöst. Der erste Gedanke, aus dem der zweite Gedanke hervorgegangen ist, wie ein Ast aus einem Baumstamm, galt Marc. Ein physischer Schmerz eher als ein Gedanke. Als risse ihn etwas in die Tiefe.

Betty steht mit verschränkten Armen an der Wand, blickt über ihn hinweg. Trotzdem scheint sie zu spüren, dass er erwacht ist. Ihre Lider sind geschwollen, ihr Mund wirkt eingetrocknet, die Lippen sind blass, aber scharfkantig und durch die Form nur, nicht aufgrund der Farbe, von ihrem übrigen Gesicht abgesetzt. Sie bewegen sich, als memoriere Betty in Gedanken einen Liedtext. Noch immer trägt sie ihren roten Wollpullover, scheint sich nicht umgezogen zu haben seit jener Nacht, obwohl es heiß ist und stickig im Krankenhauszimmer und ein länglicher Lichtschein hinter den Lamellenvorhängen lauert, der bereits halb über das Fensterbrett hinabgekrochen ist.

«Sie haben dir was zum Schlafen gegeben«, sagt sie.

«Ist dir nicht heiß?«

Sie schweigt. Sie scheint zu fürchten, dass er sich an nichts erinnert, dass sie ihm alles erklären muss.

Als sie im Holler-Opel sitzen und aus Samedan hinausfahren, redet sie. Dass sie seine Sachen schon gepackt habe, sagt sie, und auch Marcs Sachen, und der Cousin der Zimmerwirtin, ein gewisser Raphael, genannt Raphi, habe mit ihr zusammen das Auto vom Parkplatz geholt, was sie genauestens in allen Details berichtet, und die Zimmerwirtin habe zunächst kein Geld annehmen wollen, sie, so Betty, sei zunächst vor dem Akt des Geldnehmens zurückgescheut, da es ihr offenbar absurd vorgekommen sei, in dieser Situation Geld zu nehmen, und habe sich infolgedessen etwas gewunden, da sie nicht gewusst habe, wie der Preis letztlich zu berechnen wäre, da sie ja nunmehr nicht drei Personen, sondern … Sie bricht ab, ein gelber Laut springt in den Raum. Nie hat er einen solchen Ton von ihr gehört.

Ihre ausgestreckten Hände umklammern das Lenkrad. Es ist, als wolle sie es sich vom Leib halten.

«Wo fahren wir hin?«, fragt er, weiß aber nicht, ob er es nur gedacht hat.

Betty trägt jetzt eine Sonnenbrille. Ihr Mundwinkel zuckt, er ist rot und rissig wie unter einem Vergrößerungsglas. Tom hat den Eindruck, an dieser Stelle durch die Oberfläche ihrer Haut hindurchsehen zu können, aber vielleicht liegt es daran, dass er die Welt noch immer in besonderer Schärfe wahrnimmt und doch alles ihn blendet, als wäre er in einem abgedunkelten Zimmer erwacht und öffne im gleißenden Mittag die Vorhänge.

«Wir fahren zu ihm«, sagt sie plötzlich. Die Straße schneidet die Landschaft in zwei Hälften. Das leuchtende Weiß der Mittelstreifen ist ein Blitzlicht, das in schnellem Takt aufflackert.

«Ja«, sagt Tom und wundert sich, dass sie nichts fragt, nichts wissen will.

Er legt seinen Blick auf sie, auf ihre Wange, aber er kann sich nicht halten, rutscht hinab. Selbst die Blässe ihrer Haut blendet.

«Wir müssen tanken«, sagt Tom. Er flüstert, weil jedes Geräusch zu laut ist. Er wiederholt den Satz, und es erscheint ihm wie ein Wunder, dass dies nach wie vor seine Stimme sein soll. Dass sich nichts verändert haben soll. Selbe Sonne, selbe Stimme, selbe Hand.»Wir müssen tanken«, flüstert er, denn auch heute frisst das Auto Benzin und auch morgen und übermorgen.

Betty setzt den Blinker, und über der Allee, die sich in sanftem Bogen durch grünes Land schwingt, liegt der blaue Himmel. Ein gelbes Schild rast an Toms Fenster vorüber. Der Motor heult auf, und Betty verfestigt den Griff ums Lenkrad, die Haut ihrer Handrücken spannt sich über den Knöcheln. Ihre Arme zittern. Das Auto röhrt, es ist der Auspuff, natürlich, Marc hatte recht, und der Motor wird immer hysterischer, Bettys rechter Oberschenkel drückt sich tief in den Sitz hinab, ihre Kiefermuskeln treten hervor, und das Auto beschleunigt bis zum Überdrehen, dann schaltet sie, reißt den Knüppel in den nächsten Gang, vermindert aber nur für eine Sekunde den Druck ihres Fußes auf dem Gaspedal, die Wiesen im Hintergrund erheben sich, ziehen sich zu Streifen zusammen, die Bäume verlassen den Boden, einer nach dem anderen, aber einer bleibt stehen, stürzt auf sie zu, Toms Wirbelsäule presst sich tief in den Sitz hinein, es ist ein angenehmes Gefühl, denkt er, so eindeutig den Fliehkräften ausgeliefert zu sein, von denen er keine Ahnung hat, die aber existieren. Sicherheit. Gleich heben sie ab, er schließt die Augen, erwartet den Aufprall. Im selben Moment fliegt er nach vorn, ein reißender Schmerz stoppt seinen Oberkörper, seine Stirn knallt ans Armaturenbrett, und das Quietschen der Reifen hallt noch sekundenlang in seinen Ohren nach.