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Qualm steigt aus der Kühlerhaube. Die Stille, die jetzt von draußen in den Innenraum des Wagens dringt, ist immens. Betty sitzt sehr gerade, wie eine Puppe. Ihr Gesicht ist bewegungslos, nur ein Streifen Flüssigkeit rinnt über ihre Wange herab, übers Kinn, über den Hals, in den Rollkragen ihres Pullovers, aber es scheint keine Träne zu sein, einfach Wasser, das aus ihrem Auge entweicht. Sie wischt es nicht weg, sie schnieft nicht. Sie möchte nur, dass Tom fortan weiterfährt. Sie wechseln die Plätze, und als er um das Auto herumgeht, wundert er sich über die Frühlingswärme, die über seinen Nacken streicht, über den Geruch der gemähten Wiese, über einen Marienkäfer, dessen gespreizte Flügel dicht an seinem Gesicht vorbeisurren. Er bleibt stehen, versucht, etwas festzuhalten, zu begreifen, das unmittelbar vor ihm in der Luft zu liegen scheint, aber es gelingt ihm nicht. Die Erde ist aus ihrer Achse gekippt, und niemand hat es gemerkt. Sie müssen tanken.

BESUCHEN SIE MICH EINMAL

Zwei Tage lang gingen Betty und Lisa durchs Haus, erledigten Dinge, telefonierten mit dem Totengräber, mit der Polizei, mit dem Pfarrer der Gemeinde. Ihre Körper wurden von diesen Aufgaben wie durch ein Korsett aufrecht gehalten, drohten dann, als alles erledigt war, sich aufzulösen. Tom, der tagsüber vor allem damit beschäftigt gewesen war, den Frauen in ihrer Geschäftigkeit auszuweichen, ihnen nicht im Weg zu stehen, hatte Lisa abends wieder und wieder den Hergang der Dinge schildern müssen, so als brauche man nur den einen Wendepunkt zu finden, um von da an die ganze Geschichte neu zu erfinden. Betty saß mit abgewandtem Gesicht, blickte auf die dunkle Fensterscheibe oder auf die Wand daneben. Tom erzählte mechanisch, wobei er jedes Mal ein neues Detail aus der Geschichte heraushob, er spulte diese Geschichte herunter wie auswendig gelernt, wie ein Märchen, das wahr ist, weil existent, aber trotzdem niemals geschehen. Seine Stimme, die das Märchen erzählte, gehörte nicht zu ihm. Auch seine Hände, die auf der Tischplatte lagen, gehörten nicht zu ihm. Sein Körper, seine ganze Person, seine Gedanken waren Einzelteile, die sich für bestimmte Tätigkeiten zusammenschlossen und dann wieder auseinanderstrebten.

«Er hat gesagt, dass er sterben möchte wie sein Vater«, sagte die Stimme am Vorabend der Beerdigung, da alles schon endlos wiederholt worden war. Es war ihm plötzlich wieder eingefallen.

Lisa Baldur, die ihren Blick die ganze Zeit auf Toms Augen gelegt hatte, als wären sie es, die die Geschichte erzählten, stand plötzlich auf und wandte sich zum Fenster. Mit einem Ruck drehte sie sich zu ihm, öffnete und schloss ihren Mund, strich sich dann eine Haarsträhne aus der Stirn, die sich gar nicht dort befand.

«Hat er das so gesagt?«

In diesem Moment begriff Tom, dass Lisa ihn nur hier duldete, weil er ihr diese Geschichte erzählen konnte, nicht er war es, den sie hier an ihrem Küchentisch sitzen ließ, sondern seine Stimme.»Nicht direkt«, sagte diese, irgendwo vor ihm im Raum.»Er sagte, dass er an einer langen Krankheit sterben möchte, dass er am liebsten viel Zeit hätte, um Sachen zu begreifen.«

Lisa Baldurs Kopf wackelte. Sie wirkte plötzlich sehr alt. Tom konnte nicht erkennen, ob sie den Kopf schüttelte oder ob er aus anderen Gründen wackelte.

«Sein Vater ist nicht an der Krankheit gestorben«, sagte sie langsam, nachdem sie ihren Kopf zurückgeworfen und dann gerade aufgestellt hatte. Es war, als könne er jeden Moment von ihren Schultern kippen.

«Es war ein Autounfall. Marc hat es ihm nie verziehen. Er wollte es wohl auch nicht wahrhaben. Es …«, sie sah geradeaus, aber ihr Blick schien irgendwo reflektiert zu werden und in sie selbst hinabzutauchen.»Es war Selbstmord. «Sie stand in der Mitte des Raums, der sich um sie her zu weiten begann, Wände, Decke und Fußboden wichen von ihr zurück. Langsam drehte sie sich um, plötzlich zur Greisin gesunken, und ging hinaus.

«Hast du das gewusst?«Tom sah Bettys Umriss im Glanz der Fensterscheibe, so unwirklich und so fern. Sie schüttelte den Kopf. Sie sprach nicht, seit Tagen nicht mit ihm. Er hob seine Hand vom Tisch auf, sie war schwer, zog seinen Arm hinab, seine Schulter, sein ganzer Oberkörper wollte auf die Tischplatte sinken, alles schien für einen kurzen Moment miteinander verbunden zu sein, aber er blieb aufrecht und hob seine Hand an Bettys Wange. Erstaunt über ihre Wärme, über den Puls in ihrer Schläfe. Über die Weichheit ihres Haars. Also lebt sie. Aber was genau ist das, leben, sag es mir, wollte er sagen, doch er konnte es nicht.

Am Tag der Beerdigung brach das Sonnenlicht durch die Fensterscheiben und flutete die Mühle mit schonungsloser Helligkeit. Lisa Baldur, die Greisin, deren Kopf weiter auf die Schultern hinabgesunken war in der Nacht, trug eine Sonnenbrille. Sie hatte Kaffee gekocht. Aber sie trank ihn nicht. Nur Tom trank Kaffee, während Lisa und Betty stumm am Tisch saßen und nicht einmal atmeten. Niemand schreckte auf, in der Annahme, Marc käme herein, niemand hörte vertraute, jedoch nichtexistente Schrittgeräusche, wie es oft berichtet wird, nein, es ist ein Wunder, dachte Tom, wie schnell man sich an den Tod gewöhnt. Stattdessen surrten irgendwann Autos ins Tal hinab, Menschen stiegen aus, betraten das Haus, allesamt lebendig.

Marc, im Sarg liegend, wo er von nun an immer liegen würde, was Tom unglaublich vorkam — dass wir uns am weitaus längsten in einem Möbelstück aufhalten, das wir uns nicht selber ausgesucht haben —, trug seine Bühnenklamotten. Betty und Lisa hatten lange überlegt und sie aus Marcs Reisetasche entnommen, sie gewaschen, gebügelt und gefaltet und dem Totengräber übergeben. Tom blickte in das hölzerne Möbelstück hinein, das nach frischem Kiefernholz roch. (Nie mehr würde er den Geruch von Kiefernholz ertragen können, dachte er.) Aber unwahrscheinlicher noch als der tote Körper, der nicht Marc war, erschien ihm sein eigener lebendiger Körper, der nicht Tom war. Erstaunt betrachtete er seine Hand, die sich unaufhörlich bewegte und doch dieselbe Hand war, die einmal eine von wem auch immer in die andere gefaltete Leichenhand sein würde. Er betrachtete seine Beine, zukünftige Leichenbeine, die durch feinste Bewegungen seiner Muskeln den Stoff der Hose vibrieren ließen. Auch er trug die Auftrittsklamotten, die sie, wie er sich erinnerte, an einem Regennachmittag zusammen gekauft hatten.»Nehmen wir was Gescheites«, hatte Marc gesagt,»kein H&M, die müssen schon ein bisschen länger halten. «Wie lange würden sie noch halten, unter der Erde?

Seine lebendigen Hände spielten, wie es von Lisa gewünscht worden war, auf der alten Kirchenorgel Bachstücke. Die Pfarrerstimme hallte durch das Kirchenschiff, und es nützte ja nichts, die Pfarrerstimme hassen zu wollen, die mit polnischem Akzent über die Ratlosigkeit sprach. Zum» Auszug«, wie die Pfarrerstimme bei der Besprechung das Herausgehen aus der Kirche genannt hatte, spielte er» Love in Portofino «und wusste nicht, ob es geschmacklos war. Während sich seine Finger über die Tasten bewegten, betrachtete er das kleine Holzkreuz, das links über dem Spieltisch hing, mit einem Palmwedel geschmückt und umsummt von einer Biene, die sich hierherauf verirrt hatte.»Liebe Biene, hilf mir«, wollte er sagen, betrachtete die Notenhefte, die am Fußboden in einem Weidenkörbchen gestapelt waren,»liebe Notenhefte, helft mir. «Lange blieb er auf dem Hocker sitzen. Er atmete den Weihrauchgeruch, Holzgeruch, die Kühle des hohen Kirchenraums. Das Gebälk über ihm stand fest, die Notenhefte lagen, die Biene summte, und für einen Moment war er sicher, dass alles dies nicht wirklich geschah.