Als er aus dem Schatten des Vordachs ins Licht des kleinen Friedhofs trat, sah er von fern die Trauergemeinde, die sich durch enge Pfade quetschte und zwischen den Grabsteinen ausbreitete. Erst nachdem sie den Sarg in die Erde gesenkt hatten, erreichte er die übrigen. Helge war da, Tini, Ulrich, Didi, jene, die sie Freunde nannten, und als sich die Menge im Frühlingswind zerstreut hatte, sah er am Friedhofstor Breitenbach, der knorrig und nach vorn geneigt stand und über das gelbe Rapsfeld hinauf zum steil ansteigenden Himmel blickte. Lange Zeit sagte er nichts. Dann sagte er:»Besuchen Sie mich einmal. «Tom nickte. Aber er wusste, dass er ihn nie wieder besuchen würde.
BIS DANN
Warum sie ihn in die Erde hinabgesenkt haben. Warum sie einen Pfarrer über ewiges Leben haben lügen lassen. Warum sie diese Pfarrerlügen mit ihm in die Erde hinabgesenkt haben.»Weil man es nicht wissen kann«, hatte Lisa gesagt, bevor sie schrie, endlich, und mit Fäusten auf seinen Brustkorb schlug, und er sich nicht wehrte und ihre Frage, die einzige, nicht beantworten konnte: Warum sie nicht auf ihn aufgepasst haben.
Tom fährt Betty im röhrenden Opel zum Bahnhof. Sie möchte nicht, dass er sie ans Gleis begleitet. Im Rückspiegel sieht er, wie sie um das Auto herum läuft, wie die Heckklappe hochschlägt, wieder hinabsaust und die Sicht freilegt, auf den Rucksack, den sie über die Schulter wirft und der so schwer ist, dass ihr Oberkörper ins Taumeln gerät.»Bis dann«, liest er von ihren Lippen, und ihr Blick hebt sich für einen Sekundensplitter zu ihm, bevor er wieder durch ihn hindurchfällt in den leeren Raum. Die am Rucksack festgebundenen Turnschuhe baumeln seitlich, schlagen aneinander, bis ihre Inhaberin hinter der Schwingtür des Bahnhofs verschwunden ist.
Eine Woge von Selbstmitleid überrollt ihn, fast erstickt er darin. Er schämt sich. Für seine unzulängliche Trauer, die sich wie ein Bumerang auf die eigene Verlassenheit zurückbiegt. Er trauert um sich selbst. Weil er mit Marc auch sich selbst verloren hat, denn was ist ein Freund, wenn ihm der Freund fehlt? Was ein Liebender, der nicht mehr lieben kann?
Weil er das Auto zurückgeben muss, fährt er nach Aschberg / Rhön. Er kommt nur zwei Tage später als angekündigt, und er kommt allein, was die Eltern nicht besonders zu verwundern scheint. Ein rötlicher Abendwind geht durch die Vorgärten, und der Vater, der mit gespreizter Heckenschere am Zaun steht, hat bereits von weitem gehört, dass mit dem Auto etwas nicht in Ordnung ist. Der Auspuff, sagt er. Schon wie er unten beim Hessischen Hof um die Ecke gebogen sei, da habe er hören können, sagt der Vater, wie der Auspuff röhrt.»Ja«, sagt Tom,»der Auspuff«, und nickt und sieht hinter dem Küchenfenster den lockigen Kopfumriss seiner Mutter. Und sieht, wie sie kurz danach auf dem Treppenabsatz steht, wo der Abendwind durch ihre Haarlocken wischt, sie leicht bewegt wie die Blätter eines Baums. Dass er sich einmal ins Auto setzen, meint der Vater, und es anlassen soll. Er wird noch einmal genau hinhören.
Ob etwas passiert sei, fragt die Mutter, als sie die Treppen herunterläuft, fast herunterrennt. Sie trägt ein lilafarbenes T-Shirt, und Tom erschrickt über ihre faltigen Arme, die bei jedem Schritt wackeln, er denkt, dass sie alt wird, ja bereits alt ist, und er weiß nicht, seit wann.
«Ja«, sagt er.»Der Opel«, sagt er.»Er ist kaputt.«
Lange stehen sie schweigend um den kaputten Opel herum. Ob er bleiben will, fragt ihn die Mutter am Ende des Schweigens, ob er übernachtet. Aber Tom weiß es nicht. Er weiß es auch dann nicht, als sie ihn bei den Schultern nimmt mit ihren harten Händen und schüttelt und ruft, dass er etwas sagen soll, um Gottes willen. Er weiß es nicht, aber er weint. Alles auf einmal, Tränen und Rotz, während sein Kopf immer wieder an den seiner Mutter schlägt, und er spricht unter Tränen, dass Marc tot ist, und die Stimme an ihrem Hals wieder und wieder diese Worte, Marc ist tot, wiederholen muss, weil sie ihm nicht gehorcht, immer wieder abbricht, erstirbt. Die Wange der Mutter glänzt nass, sie riecht nach Hautcreme, an ihrem zerknitterten Hals die Goldkette mit dem feinen Kreuzchen.
EIN JAHR
Es hat sich gelohnt, dass die Mutter sicherheitshalber an jenem seinem Ankunftstag das Kinderzimmer für ihn hergerichtet, auf das Kinderbett die Bettwäsche gezogen und den Staub von den Kindermöbeln gewischt hat, denn er übernachtet und übernachtet. Er übernachtet nicht nur, er überjahrt. Er bleibt ein ganzes Jahr und drei Wochen. Tags sitzt er in seinem Dachzimmer und tut vor sich selbst, als ob er den Wolkenfetzen nachblicke wie in seiner Kindheit, aber er sieht sie nicht. Er sitzt auf seinem Klavierhocker, der vom Klavier noch übrig geblieben ist, manchmal dreht er sich langsam, sehr langsam um die eigene Achse, nimmt sich vor, mit der Drehbewegung die Bewegung der Zeit zu imitieren, eine Umdrehung pro Tag. Beobachtet sehr lang kleine Tiere, die an der Wand entlanggehen, Fäden ziehen, Flügel spreizen und irgendwann tot und eingetrocknet am Boden liegen. Er versucht, den Unterschied herauszubekommen, aber er weiß nicht, was das ist: Tod, Leben.
Nachts wälzt er sich in seinem Bett, das zu kurz ist. Das Licht der Straßenlaterne, denkt er öfter, bestimmt über zweihundert Mal, ist neu. Früher war es nicht da, das elektrische Licht, das gelb auf dem Fußende seines Bettes liegt. Wenn er schläft, träumt er von Marc. Als gäbe es nur Marc zum Träumen, als habe sich die gesamte Welt zugunsten dieses einen Inhalts aufgelöst. Marcs toter Körper, der Sarg, der Friedhof, das Grab. Marc, der bei lebendigem Leib verwest, Marc, der zurückgekehrt ist in ihre Berliner Wohnung und in seinen halb zerfallenen Auftrittsklamotten am Flügel sitzt, mit dem Rücken zu ihm, das leblose, flachsartige Haar.
Wie mag er jetzt aussehen dort unten, wie schnell verwest man? Wie barbarisch ist es eigentlich gewesen, ihn zu begraben, denkt er, aber Lisa wollte ihn» bei sich haben«, sie wollte einen Ort.
Oft erwacht er inmitten der Nacht und stellt sich ans Fenster, bis der Tag zurückkommt. Es ist ein einziger Tag, der immer wieder hinter den Hügeln heraufkommt. Ein einziger Tag, der sich jeden Morgen auftürmt wie ein Berg, auf den man langsam hinaufsteigt bis zum Mittagsgipfel und dann hinabsteigt in Richtung Nacht, um im Morgengrauen wieder mit dem Aufstieg zu beginnen. Der Tagesberg bleibt sich immer gleich. Jede Minute muss abgeschritten werden, muss jeden Tag immer wieder hinauf- und hinabgeschritten werden, und die Strecke wird nicht kürzer und nicht länger, sondern bleibt sich gleich und gleich, nur die Schritte, denkt Tom, am Nachtfenster stehend, werden unmerklich langsamer, werden müder, bis man eines Tages erst lange nach Mittag zum Mittagsgipfel kommt und weit nach Einbruch der Dunkelheit ins Tal der Nacht.
Vielleicht liegt es daran, dass er auch äußerlich immer schwächer wird. Er isst kaum etwas. Er hat das Gefühl, nichts essen zu müssen. Vielleicht könnte er essen, aber er muss nicht. Seine Essorgane, scheint es, liegen außerhalb von ihm, und wenn er isst, dann hat er nicht das Gefühl, selbst etwas zu essen, sondern etwas außerhalb von ihm selbst Liegendes mit Nahrung zu füttern. Immer mehr empfindet er es als Belastung, dieses außerhalb liegende Nahrungs-Ich zu versorgen, es wird zur unüberwindlichen Anstrengung, die Mahlzeiten, die ihm die Mutter, weil er nicht hinuntergehen möchte, wie einem Gefangenen ins Zimmer stellt, nicht nur anzusehen, sondern auch zu essen. Es ist seine Tagesaufgabe, seine Lebensaufgabe, der er immer widerwilliger nachkommt. Seine zweite Lebensaufgabe ist das Denken, jenes Formulieren der Irrealis-Konstruktionen — was wäre gewesen, wenn ich nicht in Como ausgestiegen, Betty nicht geküsst, wenn sie nicht Kopfweh gehabt, wir nicht wandern, nicht auf Tour gegangen, ich Marc gesucht, ihn zurückgezerrt, ich nicht Betty kennengelernt, nicht Marc, ich nicht geboren —, all die Gedankenverbiegungen, die in seinem Kopf ein dunkles Labyrinth der Möglichkeiten errichten und die viel Zeit beanspruchen dort oben in seiner Kammer.