Выбрать главу

Ob er nicht einmal spazieren gehen wolle, fragt die Mutter. Sonst, wenn er hier gewesen sei, sei er doch gerne spazieren gegangen,»in die freie Natur«, sagt sie. Aber Tom sieht sie nur staunend an, kann sich nicht erinnern, jemals gerne spazieren gegangen zu sein. Um diesem Haus zu entkommen vielleicht, um dem Wurstsalat zu entkommen vielleicht. Ob er Klavier spielen will? Ob ihm der Vater wieder ein Klavier besorgen soll? Ob er das Klavier aus Berlin holen soll? Der Vater kennt doch einen Spediteur, den Spengler-Hannes und so fort. Tom versteht sie nicht. Er habe doch früher, so sagt sie, so gerne Klavier gespielt. Aber Tom hebt seine Schultern und schüttelt seinen Kopf,»hab ich das?«, fragt er noch, als sie die Tür schon längst wieder hinter sich geschlossen hat.

Wärmer wird es und stickiger in seinem Kinderzimmer. Die heiße Luft des Sommers liegt auf dem schrägen Dachfenster, und die Asphaltstraße zu Füßen des Hauses flimmert im Licht. Vögel schnellen von Stromleitungen empor, stürzen sich in die Bläue des Himmels wie Schwimmer ins unbewegte Wasserbecken. Tom hat die Türen von Schränken und Kommoden geöffnet und begonnen, seine darin gestapelte Vergangenheit zu ordnen. Er sortiert Bilder und Erinnerungen, die Bruchstücke einer Existenz, die er nicht selber ist. Tomgesichter mit Zahnlücken und Wikingerpony lagern in Schuhkartons. Schultütenbilder. Tomgesicht mit Kommunionskerze und Grinsen. Matchboxautos in Plastiktüten. Münzen. Asterixhefte, und in einer Ritze zwischen zwei Holzbrettern auch Pornohefte. Er ordnet, er sortiert, setzt die Bruchstücke ineinander zu einem Bild, das eine Behauptung bleibt. Das bin ich, schreibt er auf ein Foto und auf ein anderes und auf noch ein anderes. Das bin ich.

Als eine winzige schwarze Spinne zwischen der linken Zimmerecke und dem rechten Schreibtischrand ein wunderbares, weit ausladendes Netz fertiggestellt, als sie den letzten Faden außen vertäut hat und sich müde, aber zufrieden in den Mittelpunkt ihres hell glitzernden Universums begibt, um der kommenden Dinge zu harren, steht er auf. Er öffnet die Tür, steigt die lange Steintreppe hinab, betritt das Wohnzimmer. Blaues Licht scheint dort auf Wände, Schrankwände und Sofatisch, auch auf die Gesichter der Eltern, die jetzt erstaunt zu ihm aufsehen.

Es kommt ein Krimi, sagt die Mutter, und schnell greift sie in ein Schälchen mit Erdnüssen. Schweigend setzt er sich. Schweigend schauen sie nebeneinander ins blaue Licht. Es kommt nach dem Krimi das Aktuelle Sportstudio, und als der Vater ins Bett gegangen ist, kommt ein Spielfilm. Ein Kommen, ein Gehen. Afrika und die Augen von Meryl Streep. Begrab mich hier, genau hier, ja? wird gesagt, und die Sonne macht alles rot. Die Mutter wischt sich die Augen mit einem Taschentuch. Auch Tom weint lautlos zur Filmmusik, die Tränen wärmen sein Gesicht, seinen Hals, bis er endlich das Taschentuch der Mutter nimmt, das sie ihm wortlos entgegenstreckt.

Jeden Tag wird fortan ferngesehen. Er sieht alles, was sich anbietet, und es ist viel. Er hat nicht mehr die Kraft, hinaufzusteigen in seine Dachkammer, nur spät nachts, wenn die Luft dünner ist, fließender im Haus, kann er sich so weit bewegen, die Stufen zu überwinden. Seine Mutter aber ist froh, sagt sie, dass er fernsieht. Es bringe ihn auf andere Gedanken, sagt sie, und er nickt dazu, aber es stimmt nicht, er hat nur einen Gedanken, einen einzigen, den er aber nicht fassen, nicht scharf stellen kann, weil er sich irgendwo zwischen seinem Gehirn und dem Universum befindet, erahnt und vertraut, aber unerreichbar wie das kalte Leuchten eines fernen Planeten.

Auch wird von nun an jeden Tag gegessen. Das Nahrungs-Ich wird jeden Tag vorbildlich von ihm mit Nahrung gestopft, geradezu ausgestopft. Je mehr er isst, desto mehr kann er essen. Und immer mehr wird von der Mutter auf den Couchtisch gestellt, außer den Mahlzeiten noch Erdnussflips und Chips und Salzstangen. Immer wieder füllen sich Schälchen, füllen sich Teller, weil seine Mutter, so sagt sie, ja froh ist, dass er isst. Aber sie wirkt nicht froh, seine Mutter. Manchmal weint auch sie, während sie vor dem Fernseher sitzt, auch bei lustigen Sendungen wird manchmal geweint. Seit nicht mehr gestritten wird, wird in diesem Haus geweint. Auch der Vater, Gerhard Holler, vor allem wenn er betrunken ist, neigt zum Weinerlichen. Das Streiten, das sich nicht mehr zu rentieren scheint, ist einer Weinerlichkeit gewichen, die weniger Kraft zu kosten und die mit Hilfe des Alkoholkonsums jederzeit abrufbar zu sein scheint. Was in den Mund des Gerhard Holler hineinfließt, scheint es, tritt leicht durch die Augen wieder nach draußen. Er plant, in die Frühpensionierung zu gehen, wie er sagt, und schrumpft schon jetzt sein Arbeitspensum zusammen, auch das Lebenspensum scheint er schon jetzt zusammenzuschrumpfen, nur das Trinkpensum nicht. Das Trinkpensum, das Fernsehpensum und das Essenspensum, denkt Tom, sind diejenigen Dinge, die im Wachsen begriffen sind in diesem Haus. Der Fernseher, das Essen und das Trinken, denkt Tom, werden noch lange Jahre so weiterleben in diesem Haus, auch dann noch, wenn wir alle längst tot sind.

Als vor den Fenstern des Hauses Blätter wehen, als die Vögel sich ein letztes Mal von ihren Stromleitungen in den Himmel stürzen, der leer ist wie ein trockenes Schwimmbecken, wird Tom von seinem Vater um ein Gespräch gebeten. Es kommt der Tod der Lady Diana im Fernsehen, die sich, aus Versehen oder aus anderen Gründen, zusammen mit ihrem Liebhaber an einem Betonpfeiler in Paris getötet hat. Tom bedauert sie nicht, er beneidet sie. Zum ersten Mal seit Monaten erscheint ihm wieder etwas erstrebenswert. Ob er den Fernseher mal ausstellen kann, fragt ihn der Vater. Er kann doch nicht den ganzen Tag fernsehen, fährt er fort, indem er auf die Fernbedienung drückt und das Gesicht der Lady Diana vom Bildschirm mit einem Zucken verschwinden lässt. Es kommen Rechnungen an aus Berlin, sagt er, schon seit Monaten, die Rechnungen, die sie bisher stillschweigend bezahlt haben. Aber irgendwann, sagt der Vater, muss es auch genug sein. Das Leben gehe weiter, sagt sein Vater. Dann schweigt er, sieht auf seine Knie hinab. Er, Thomas, sei jung, er habe das ganze Leben noch vor sich.»Das Leben«, sagt er, dann bricht er ab. Langsam erhebt er sich, läuft zur Tür, aber als er im Begriff ist, sie zu öffnen, sagt Tom:»Warum habt ihr mich in die Welt gesetzt?«

Der Vater hält inne. Sein Rücken zuckt, als stäche diese Frage in seine Wirbelsäule. Er senkt den Kopf, dreht sich langsam zu seinem Sohn. Er öffnet den Mund und weiß keine Antwort.

LEBENSMITTWOCH?

Weil endlich etwas geschehen, sich verändern muss, hat sein Vater für Thomas eine Arbeit in einer Möbelfabrik besorgt. Jeden Morgen um zehn vor sieben steht Thomas rauchend vor der Produktionshalle, deren Milchglasscheibenlichter fahl und viereckig in die Dämmerung ragen. Gedämpftes Pumpen und Dröhnen der Maschinen. Er steht etwas abseits, wird für arrogant gehalten, man weiß, dass er Musiker ist, der Sohn vom Schreibmaschinen-Holler, der etwas Besseres sein möchte.