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Er ist froh, wenn es sieben ist, wenn die Schicht beginnt, denn dann wird der Tag eingeteilt, organisiert vom Rhythmus seiner Maschine, die verschiedenfarbige Punkte auf Stuhllehnen stanzt. Rot, grün, gelb. Manchmal verwechselt er sie oder spannt die Lehnen verkehrt herum ein, dann lässt er sie heimlich in einem der riesigen Müllcontainer verschwinden. Manchmal fragt er sich, wer auf diesen Stühlen sitzen wird, überlegt, dass es schön wäre, heimlich einen Gruß zu hinterlassen.

In der Frühstückspause, von 9.20 Uhr bis 9.40 Uhr, wird draußen geraucht. Die hohen Aschenbecher stehen auf dem Treppenabsatz vor den Aufenthaltsräumen. Es sind viele Frauen, die rauchen. Manche tragen Gummistiefel, alle Kittel, haben Thermoskannen mit Tee unter die Achseln geklemmt.

Einmal lächelt ihn eine an, eine jüngere. Sie lehnt an der Mauer, ein Wind streicht durch ihr Haar, als sie an ihrer Zigarette zieht.»Scheißjob, oder?«, sagt sie. Tom schweigt, hebt die Schultern. Zum Glück sei schon Mittwoch, sagt sie. Der Wochenanfang, sagt sie, sei immer schwierig, aber ab Mittwoch gehe es dann schnell, sagt sie.»Es ist wie mit dem Morgen, der vergeht auch langsam. Die zwei Stunden bis zur Frühstückspause«, sagt sie,»sind echt der Horror, aber ab Mittag geht’s dann.«

Tom nickt, hat Ähnliches festgestellt. Ob es mit dem Leben genauso ist, fragt er sich. Ob auch das Leben ab Mittwoch schneller vergeht? Und wann ist Mittwoch im Leben, fragt er sich und betrachtet das Schuhgitter am Boden, durch das Gräser wachsen, dazwischen aufgeweichte Zigarettenfilter.

Manchmal nimmt er nicht den Bus, sondern geht zu Fuß zur Arbeit oder nach Hause. Er geht über die Hügel. Es ist kalt. Es ist Herbst. Plötzlich merkt er, dass seine Heimat schön ist. Er hat es nie gesehen, jetzt mit einem Mal sieht er es. Die weite Höhe, der Raureif, der auf den Wiesen liegt wie Licht. Der Feldweg, der das Land durchschneidet, schmaler und schmaler zur Hügelspitze hin sich verengt, ein unendliches Versprechen. Tom läuft den Berg hinauf, zum höchsten Punkt, sein Atem geht rasch, oben bleibt er stehen und schaut hinab ins weite Tal, das sich in sanften Hügeln wie Wellen eines grünen Meeres bis zum Horizont ausdehnt. Dazwischen die dunkleren Inseln der Wälder, Dörfer. Hoch über ihm gehen Wolken, rasch getrieben vom Wind. Und er sieht, dass es schön ist. Ein Schluchzen sprengt seine Brust, er wächst, breitet die Arme aus, um das alles zu umarmen, das alles zu begreifen, die Wiesen, die Täler, die Bäume, die Zeit und die Traktoren, jene, die vor ihm gelebt haben, und jene, die nach ihm kommen, all die Komponisten und Dichter und Fabriken und Tiere, den Herbst und den Winter, den Frühling auch und die liebe Sonne, die ein Teil ist des Ganzen, wie all die Insekten, die Autos, die Musik, seine eigenen Hände vor dem Himmelsblau, und während das alles gleichzeitig in ihn strömt wie in ein plötzlich geöffnetes Vakuum mit einer Gewalt und Fülle, die ihn fast platzen lässt, geht er in die Knie, sinkt auf die schmale Fahrstraße nieder, wühlt seine Hände ins Gras der Böschung, tief in die Grasnarbe, denn da ist kein Unterschied, nirgends: Marc! Er ruft diesen Namen ins Weltall. Immer wieder. Marc! Denn Marc kann nicht weg sein. Er schreit, bis er kaum mehr Luft hat und keine Stimme und er den Kopf auf die Straße sinken lässt, wo die Schottersteine hart in seine Schienbeine drücken, in sein Gesicht. Er weint lange. Dann schämt er sich. In der Ferne, sich nähernd, das Röhren eines Traktors.

Der Winter aber kommt und geht wie ein weißer Atemhauch. Das hat einmal seine Großmutter gesagt, als er ein kleiner Junge war. Das Leben, hatte sie gesagt, sei vom Alter, dem Ende aus besehen, wie ein Atemhauch, wenn man bei Frost das Fenster öffne und hinausblicke, mehr nicht. Oft hatte sich Tom seine Großmutter vergegenwärtigt, wie sie am Fenster steht und ihren weißen Atem einen Wimpernschlag lang in die eisige Luft hineinstellt, wie sie anschließend das Fenster schließt und in die Dunkelheit zurücktritt, aus der sie gekommen ist.

Der Winter ist wie ein weißer Atemhauch vergangen und der Frühling zurückgekehrt, als sei kein Unglück geschehen, das sich jährt, als Diedrichs Cabriolet (ein Geschenk seiner Eltern zum Studienabschluss) vor dem Haus hält. Ein Arbeitstag wie alle anderen, und Tom ist mit dem Bus zurückgekommen, läuft die sonnenbeschienene helle Hauptstraße hinauf. Er denkt nichts. Oder zu viel. Das Auto kennt er nicht. Hätte er geahnt, dass es Diedrichs Auto ist, er wäre nicht ins Haus gegangen. Er wäre ins Land hinausgelaufen, fort, immer weiter.

Er sei gekommen, ihn abzuholen, sagt ins lange Schweigen hinein Didi, der mit seinen Eltern um den Wohnzimmertisch gesessen, sich plötzlich erhoben hat, als Tom das Zimmer betritt. Sie bräuchten ihn in Berlin. Einen Pianisten — er spricht sehr leise, als glaube er selbst nicht an seine Worte — wie ihn.»Jemanden, wie dich«, sagt er mehrmals. Der Fernseher läuft ohne Ton. Tom, als er Didi gegenübersteht, sieht, dass dieser entsetzt ist. Sein Mund bewegt sich lautlos in seinem Gesicht, als müsse er etwas kauen. Silben, die er lieber hinabschluckt. Zum ersten Mal fällt Tom auf, wie dick er geworden ist. Wie furchtbar er vermutlich aussieht. Er setzt sich auf das Sofa, stellt den Ton an.»Ich werde nicht mehr Klavier spielen«, sagt er zum Fernseher.

Und so geschah es. Er hatte seinem Empfinden nach nie wieder Klavier gespielt nach Marcs Tod. Er hatte wohl die Tasten hinabgesenkt, in bestimmter Anordnung, er hatte zusammen mit Diedrichs Quartett Dienstleistungsauftritte absolviert, bei Geschäftseinweihungen, Tanzveranstaltungen für Senioren, bei Einkaufspassagenjubiläen, in Feinkostabteilungen, auf Stadtfesten, hatte, nachdem ein findiger Agent namens Jens-Christian Hepp, den man Diedrichs Beziehungen und einer gewissen blonden Diplomatentochter namens Hedda Groning verdankte, auf die Idee gekommen war, dass man» Worldjazz«, wie sie es nannten, vermarkten könne,»groß rausbringen könne«, wie er sagte, da hatte er durch das Herunterdrücken von Tasten eine Menge Töne erzeugt anlässlich von Konzerten in kleineren und sogar größeren Hallen, hatte dafür Schallplattenpreise und Geld erhalten, aber Klavier gespielt hatte er nie wieder.

DER GESANG DER GRAUMEISE

«Natürlich erinnere ich mich an Betty Morgenthal.«

«Du hättest mich dalassen sollen.«

«Was?«

«Du hättest mich in Aschberg bei meinen Eltern lassen sollen.«

Diedrich betrachtete lange den Fuß seines Bierglases, lächelte ihn an, wehmütig, wie das Foto einer ehemaligen Geliebten. Plötzlich, mit einer ruckartigen Bewegung, schob er das Glas von sich, es schabte über die Chromfläche des Tresens, das Bier schwappte bis zum Rand.

«Tom Holler«, sagte er und verschob seinen Mund. Seine Augen traten heraus.»Tom Holler«, wiederholte er und schwieg, aber sein Mund vibrierte.»Wenn du nur einmal«, fuhr er fort,»ganz kurz nur, aufhören könntest, an dich zu denken.«

Nämlich gebe es, so Diedrich nach einer Pause, in der beide still auf den Fuß ihres Bierglases hinuntergeblickt hatten, gebe es viele Dinge auf der Welt, an die man zwischendurch denken könne.»Beispielsweise«, sagte Diedrich ironisch und schien zu überlegen, indem er seine Handfläche nach oben in die Luft drehte, als erwarte er Regentropfen, solle er einmal an eine Graumeise denken, als Übung, als ein Experiment, nur um zu sehen, dass sich die Welt vielleicht nicht um ihn, Tom Holler, als ihren Mittelpunkt drehe.»Dass«, so Didi,»vielleicht auch die Graumeise denkt, dass sich die Welt um sie dreht, wie wir alle denken, dass sich die Welt um uns dreht, weil wir uns selber eben nicht sehen können. «Er hatte mit zunehmender Schärfe gesprochen. Der lange Satz war in eine Spitze gemündet, die auf Toms Gesicht zielte.

«Hattest du was mit ihr?«, fragte Tom, indem er sich Diedrich zuwandte, aber die Augen lange schloss.

«Was, mit Betty?«

Statt eines Nickens schloss Tom wieder die Augen.

«Ich …«Didi zögerte. Holte sein Bierglas heran. Wieder das Schaben.»Ich kann mich nicht erinnern«, sagte er.»Kann sein, dass wir mal geknutscht haben.«