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«Du kannst dich nicht erinnern?«

«Kannst du dich an alles erinnern?«

«Daran schon«, sagte Tom. Der Satz war seinem Mund entwichen, ehe er ihn hatte denken können. Er schien nicht in seinem Gehirn gebildet worden zu sein, sondern direkt auf seiner Zunge. Plötzlich dachte er tatsächlich an die Graumeise. Sie saß auf einem schwankenden Ast und öffnete den gelben Schnabel. Sie sang.

Diedrich schwieg und betrachtete ihn. Er hielt seinen Kopf schräg, leicht nach hinten geneigt, als bedürfe es eines bestimmten Winkels, einer ganz bestimmten Entfernung, um ihn richtig zu sehen, ihn scharf zu stellen oder durch die Öffnungen seiner Augen in ihn hineinzusehen. Dort verschlang die Graumeise einen Regenwurm. Gleich daneben saß Betty auf einer Picknickdecke in der Dunkelheit des Waldes.

«Wann?«, fragte Tom. Er räusperte sich, fühlte sich überführt, aber eigentlich war er es, der die Anklage erhob, nicht Diedrich.

«Was, wann?«Diedrich hatte ihn nicht aus den Augen gelassen.

«Wann hast du mit ihr geknutscht?«

«Ist das wichtig?«

«So wichtig oder unwichtig wie alles andere auch.«

Diedrich lächelte ihn an, wie man ein Kind anlächelt.»Ich weiß ja nicht mal, ob wir überhaupt geknutscht haben«, sagte er.

«Aber ich weiß es«, sagte Tom.»Sie hat es mir erzählt, sie hat gesagt, dass sie mit dir geschlafen hat.«

Diedrich senkte den Kopf, ließ ihn aber nicht aus den Augen.»Was?«

«Ich glaube, du hast mich sehr gut verstanden«, sagte Tom und konnte sich nicht erklären, wo er dieses Lehrervokabular herhatte.

Diedrich schüttelte den Kopf. Blickte scheinbar nachdenklich in die Luft und schüttelte wieder den Kopf. Die Locken hüpften. Duft von Haargel umgab ihn.»Und wenn es so wäre?«

«Wann?«, fragte Tom.

«Ich weiß es nicht, Tom. Ich kann mich ehrlich gesagt überhaupt nicht dran erinnern. Kann sein, dass wir geknutscht haben, irgendwann, in diesem Club vielleicht, keine Ahnung. Aber, hey, ich habe nicht mit ihr geschlafen.«

«Didi, ich weiß es. Sie hat es mir gesagt.«

«Dann hat sie eben gelogen. Oder sie hat mich verwechselt. Oder du hast was verwechselt.«

Tom senkte das Kinn auf die Brücke seiner ineinander verschränkten Finger. Die Graumeise zwitscherte in seinem Kopf, ihre blanken Äuglein blickten flink umher. Dann stieß sie sich von ihrem Ast ab, breitete die Flügel aus und stieg in die Luft.

«Wie sieht die Graumeise eigentlich aus? Welche Farben hat sie noch außer Grau?«, flüsterte Tom.

Diedrich hatte ihn offenbar nicht verstanden. Neigte das Ohr.

Tom aber wunderte sich sehr. Er hatte die Graumeise gesehen. Plastisch in seinem Kopf, im Wald seines Kopfes. Und dabei wusste er gar nicht, wie sie aussah. Vieles war in seinem Kopf anwesend, wie die gesichtslose Graumeise. Unzählige Fragmente seiner Vergangenheit, Wertvorstellungen, blaue, gelbe und graue Überzeugungen, Geschehnisse, Kenntnisse, aus denen sich seine Person zusammensetzte, und alle schienen sie ihm plötzlich ebenso ausgedacht wie die Graumeise, Behauptungen, Lügen, die sich mit der Zeit verstofflicht hatten und sein Ich bewohnten wie die Tiere und Bäume einen unübersichtlichen, wuchernden Wald. Er bestellte noch zwei Bier.

RENOVIERUNG

Das Haus in der Knaackstraße war eingerüstet, als Didi sein Cabriolet auf dem Bürgersteig parkte.»Sie renovieren es«, sagte er.»Du musst dir eine neue Wohnung suchen, die Mieter müssen alle raus«, sagte er knapp, nachdem er es die ganze Fahrt über verschwiegen hatte.

«Nein«, sagte Tom, als Didi die Fahrertür öffnete, fasste seinen Oberarm. Nicht, bitte, er wolle allein sein.

Im Treppenhaus hatten sie bereits neuen Putz aufgetragen. Die verblassten Jugendstilornamente waren unter der Glätte des frischen Mörtels verborgen. Auch die abgeblätterten Stuckgesimse im Eingangsbereich hatte man entfernt. Es war Nachmittag, und durch die schmalen Buntglasfenster im Treppenhaus strömte mildes Licht, legte sich in Rauten auf den alten, schmutzigen Linoleumbelag. Wie oft war er mit Marc diese Treppe hinuntergerannt? Wie oft waren sie nebeneinander diese Stufen gegangen, hatten ihre Hände über dieses Geländer gleiten lassen?

Er schloss die hohe Wohnungstür auf, wunderte sich, dass sein Schlüssel noch immer passte. Der Flur war dämmrig und kühl, nur aus einem der Zimmer, Marcs Zimmer, ganz am Ende drang ein matter Lichtschein, der die rotbraunen Dielen heller färbte. Die nackte Glühbirne baumelte im Luftzug, der durch das Öffnen und Schließen der Tür verursacht worden war. Tom blieb stehen, stellte die Reisetasche neben sich auf den Fußboden und achtete auf nichts als die Stille. Kein Geräusch war zu hören, außer seinem eigenen Schlucken, einem Knacken in den Ohren.

Langsam ging er in die Küche. Der Tisch war leer, bis auf einen kleinen karierten Zettel, darauf stand:»Lieber Tom«, Komma, sonst nichts, Bettys Handschrift. Er nahm das Papier in die Finger, ungläubig, befühlte es vorsichtig, wie etwas Lebendiges, und ging damit zum Sofa hinüber. Wie immer war es mit Zeitungen bedeckt, die er zur Seite strich, bevor er sich setzte. Er nahm einige zur Hand, überflog Daten und Meldungen: Der Waffenstillstand zwischen Israel und der Hisbollah war gebrochen worden. George Clooney hatte einen Film gedreht. Eine Rentnerin war in Friedrichshain ermordet worden. Und noch vieles mehr war geschehen. Er überlegte, ob ihn all das damals interessiert hatte. Er wusste es nicht. Er wunderte sich über den Staub, der auf allen Dingen lag. Auf den Regalen, dem Geschirr, dem alten Küchenradio am Fensterbrett, selbst auf dem Topf mit vertrockneter Kresse, überall lag eine bleierne Schicht, die im letzten schrägen Lichtstrahl aufleuchtete, bevor sie verlosch, unsichtbar wurde. Ranziger Holzgeruch. Ein Hund bellte irgendwo, vielleicht im Nachbarhaus. Langsam wurde es dunkel, er hätte Licht anschalten müssen, aber er ließ es sein. Noch immer saß er in Jacke und Schal auf dem Sofa, Bettys Zettel in der Hand. All die Gegenstände, die Teller und Kochbücher, die Blumenvase, die halbgefüllten Spirituosenflaschen auf dem Küchenbuffet, darunter die blinden Scheiben, an denen vergilbte Postkarten steckten, ein Paar Turnschuhe neben dem Türrahmen. Alles das war ebenso sprachlos wie er selbst.

«Was ist das Wichtigste im Leben, sagen Sie es mir«, hatte ihn Volker Hermanns einmal gefragt. Er konnte sich nicht erinnern, was er damals erwidert und womöglich für richtig gehalten hatte. Plötzlich glaubte er, die Antwort zu kennen: Der Tod ist das Wichtigste im Leben. Er saß noch lange so da.

Erst als es Nacht geworden war, ging er in Bettys Zimmer hinüber. Es war leer, an der Wand leuchteten einige weiße Vierecke, hinterlassen von Postern, die sie abgenommen hatte. Als er Marcs Zimmer betrat, wunderte er sich, dass das Geräusch der Dielen, die unter seinen Schritten knarrten, noch immer das gleiche war. Auch in diesem Zimmer war nichts mehr, nur der Schein des Straßenlichts, das helle Rechtecke am Fußboden ausbreitete.

Er ging ins Wohnzimmer hinüber. Der Flügel, in der Mitte des Raums, hing wie ein Schatten in der Luft und spiegelte sich in der blauen Glasscheibe der Balkontür. Ein Ast draußen schwankte und schlug sacht ans Fenster. Gedämpfter Lärm, der von der Kneipe auf der anderen Straßenseite herüberflog. Und auf dem Deckel des Instruments, dem er sich langsam näherte wie einem Tier, das bei einer zu raschen Bewegung aufschrecken und fortspringen könnte, lag, wie er sah, ein weiterer Zettel. Es war das gleiche karierte Papier, aber nicht mit Bettys Schrift, sondern einer fremden, die er nicht kannte.»Lieber Tom«, war zu lesen,»behalte ihn und spiel auf ihm, Marc hätte es so gewollt.«

Ein Marienkäfer lief über das Blatt, kletterte am geriffelten Ende des Papiers in die Höhe, spreizte die Flügel und flog ein Stück, aber er schwankte in der Luft, sackte schwer wieder zu Boden. Tom nahm an, dass er hier überwintert hatte, sein neuer Mitbewohner.