«Vielleicht schenke ich ihn dir mal«, hatte Marc gesagt, am Tag eins ihrer Freundschaft. Aber er hatte den Flügel nicht verdient. Auch nicht den riesigen Karton mit Kompositionsfragmenten Marcs, den er in seinem eigenen Zimmer vorfand. Nicht die Schachtel mit Briefen, handschriftlich adressiert an Marc Baldur, Le Coste Avenue, Berkeley. Es dauerte Minuten, bis Tom begriff, dass dies seine eigene Schrift, seine eigenen Briefe waren, in einem anderen Leben an seinen Freund gerichtet, der sie nicht in Kalifornien auf den Müll geworfen, sondern mitgeschleppt und jahrelang aufbewahrt hatte. Noch lange saß er so da, auf dem Fußboden, vor dem Karton voller Luftpostumschläge, und erkannte am dünnen Papier, das sich wellte, sich mit dunklen Flecken bedeckte, dass er weinte.
DER AUFSTIEG
Was geschieht, wenn sich aus einem Planetensystem der größte der Himmelskörper entfernt? Wenn der mächtigste der Planetengruppe, um den alle anderen Gestirne sich anordneten, um den sie auf ihren konzentrischen Bahnen kreisten, was, wenn diese Mitte verglüht, implodiert, in sich zurückfällt in die Ewigkeit des ausdehnungslosen Punkts? Sie sind aus ihrer Bahn geworfen, driften auseinander, rasen Äonen von Lichtjahrentfernungen in die Dunkelheit des Alls und kehren nicht wieder.
Tom fand eine Wohnung im nördlichen Prenzlauer Berg. Er nahm die erste, die ihm angeboten wurde. Ein-Raum-Küche-Bad, gerade so groß, dass der Flügel hineinpasste und ein Bett. Alles andere warf er auf den Müll oder übergab es Didi, dem es leidtat um die Bücher, um die Noten, und der Teile davon auf dem Flohmarkt verkaufte oder behielt. Tom wollte nichts mehr, wollte eigentlich auch nicht den Flügel, allein ein Hauch von Ungewissheit, ob es Marc vielleicht wirklich gutheißen würde, wie Lisa annahm — Lisa, die nichts wusste, nichts ahnte —, veranlasste ihn dazu, das Instrument doch zu behalten.
Oft saß er stundenlang auf seinem Bett und betrachtete das Erbstück, dessen gleichermaßen an Wald und Weihrauch erinnernde Ausdünstungen — mehr noch als dessen Ausmaße — in der frisch tapezierten Enge des Zimmers überdimensioniert erschienen. Tom saß mit verschränkten Armen, schaute auf den Flügel und versuchte, eine Ordnung zu bahnen in all seine Gedanken, die letztlich nichts waren als ein einziger langer Gedanke, der sich in seinem Kopf verwirrt hatte. Es sind nicht die Ideen, sagte er sich staunend, es ist nicht der Geist, der weiterlebt. Sondern es sind die Dinge. Die Dinge sind es, die überleben. Die Telefone, die Computer, die Tische, die Stühle, die Klaviere. Es sind die Hosen, die Bonbons, die Pullover der Toten, die überleben. Deren Schuhe und Briefe. Nicht das Materielle ist vergänglich, sondern der Geist.
Er trank viel, aß wenig, damit der Alkohol besser wirken konnte und diese Erkenntnis, wenigstens zeitweise, verschleierte.
Der Gedanke an Betty war der zweite endlose Gedanke, der sich mit dem anderen verknotete. Er wusste von Ulrich, dass sie nach Tübingen zurückgegangen war, dass sie ihr Medizinstudium wiederaufgenommen hatte, und oft dachte er daran, sofort dorthin zu fahren, sie zu suchen, die gesamte Stadt, die Welt, wenn es sein müsste, nach ihr abzusuchen. Aber es durfte nicht sein, es war unmöglich. Einzig im Kopf konnte er es tun. Er ging hin, stellte sich alles genau vor, seine Zugfahrt, die Bahnhöfe, das Wetter in Süddeutschland in vielen Varianten, die mittelalterlichen Häuser, die engen hohen Gassen, die Studentencafés mit den Filmplakaten der siebziger Jahre an den Wänden, und immer wieder Betty vor wechselndem Hintergrund, Betty, wie sie ihn anblickt, fragend oder zärtlich oder abweisend. Da war sie längst schon in Italien.
Das Wort» wenn«, das unmittelbar nach Marcs Tod zunächst sein gesamtes Denken bestimmt hatte, wurde schwächer, verblasste. Das wunderte ihn. Er schien zu akzeptieren, was passiert war. Was geschehen ist, ist geschehen ist geschehen ist geschehen ist.
Denn es stimmte nicht, nicht bei ihm, dass der Moment des Aufwachens am Morgen, bevor das Bewusstsein den Vorhang aufzog, jene Sekundenfragmente der Leere, bevor die Erinnerung erbarmungslos wie das Licht zurückströmte, einen Raum der Ahnungslosigkeit bot, eine Welt, in der nichts geschehen war, in der Marc lebte und der kommende ein ganz normaler Tag sein könnte. Es stimmte nicht. Nie, nach keinem Schlaf, auch wenn er noch so besoffen, angekleidet ins Bett gefallen war, hatte er es vergessen, nicht für den kleinsten Zeitsplitter. Niemals war das Wissen erst nach dem Erwachen wiedergekommen, sondern es war immer schon da gewesen, saß auf der Bettkante und wartete auf ihn. Das Erstaunliche war, dass man sich daran gewöhnte. Dies erschien ihm lange als der eigentliche Verrat. Dass man sich an den Tod gewöhnt, wie man sich an die Liebe, an alles gewöhnt.
Didi und Ulrich riefen öfter an und erkundigten sich nach seinem Befinden. Sie kamen vorbei, brachten Lebensmittel mit und Bier. Manchmal öffnete er, manchmal nicht. Ob er wieder spiele, fragten sie ihn. Er schüttelte den Kopf.
An ihren Gesichtern merkte er, dass sie sich Sorgen machten. Aber er selbst empfand seinen Zustand nicht als besorgniserregend. Im Gegenteiclass="underline" Er fühlte sich den anderen einen Schritt voraus. Oft, wenn er nachts schlaflos im Bett lag, wenn sich sein Magen zusammenzog, sein ganzer Körper sich um dieses Schmerzzentrum krümmte, die Knie an sein Kinn stießen und er sich schließlich aufsetzte und an die Zimmerdecke starrte, die ihm ebenso leer und bedeutungslos erschien wie die Decke des Universums, war er erleichtert, dass wenigstens Marc in Sicherheit war.
Das war seine Strategie: Das Leben als etwas Unerträgliches zu deuten, als ein Übel, dem man besser entkommt. Dann, und nur dann, war auch der Tod zu ertragen. Manchmal gelang es ihm, manchmal nicht.
Klavier spielte er zum ersten Mal wieder beim Betriebssommerfest eines großen Energieanbieters, anlässlich dessen das neu formierte Diedrich-von-Jagow-Quartett engagiert worden war. Er hatte sich geweigert, zu den Proben zu kommen, hatte darüber hinaus deutlich gemacht, dass er keineswegs an einer Mitarbeit interessiert sei. Er werde nicht mehr Klavier spielen, schon gar nicht eine solche» Kackscheiße«, wie er sich tautologisch-drastisch ausgedrückt hatte.
Dann spielte er die Kackscheiße aber doch. Zwar hatte er nicht geprobt, aber Diedrich und Ulli, von denen er bereits mehrere Male dazu befragt worden war, wie er denn gedenke, seinen Lebensunterhalt zukünftig zu bestreiten, waren am Tag der Veranstaltung in seine Wohnung eingedrungen und hatten ihn mehr oder weniger entführt.
Der Abend war entsetzlich verlaufen. Dennoch weniger entsetzlich als erwartet. Tom war schon vor dem ersten Set so betrunken gewesen, dass er die Tasten nicht mehr einzeln wahrnahm, sondern dass sie vor seinen Augen ineinanderflossen, außerdem heimlich die Plätze tauschten. Die Noten, die man ihm hingestellt hatte, waren kleine schwarze Käfer, die auf dem blendend weißen Papier herumirrten, sprangen und sich vermehrten. Zum Großteil handelte es sich um sogenannte Jazzstandards aus dem» Great American Songbook«, die er ohnehin auswendig kannte.
Ein riesiger Tanzboden, den man auf den Rasen gelegt hatte, trennte die Bühne von den Stehtischen, die mit weißen Plastiktüchern umwickelt waren. Darauf hatte man Luftschlangen drapiert und Teelichter in Gläsern. Zaubernde Stelzenläufer in Renaissance-Kostümen, die verpflichtet waren, allerbester Laune zu sein, staksten herum und wedelten mit Bändern. Das Publikum, das aufgrund irgendeiner Wichtigkeit dazu verurteilt war, an den Stehtischen zu stehen und Sekt zu trinken, indes es von den Stelzenläufern bewedelt und bezaubert wurde, ließ die Veranstaltung über sich ergehen wie das Schicksal. Die Gesichter hatten sich zu Masken versteift, die Augen stierten durch die Masken hindurch an den Lampions vorbei in die Leere einer für die Jahreszeit zu kühlen, regnerischen Juninacht. Die Münder starr geöffnet, um Häppchen aufzunehmen, wie es von ihnen erwartet wurde. Niemand tanzte. Erst spät begaben sich die Stelzenläufer, angewiesen von der verzweifelt gutgelaunten Künstleragenturinhaberin Frau Angela (gesprochen Änschela) Kooper, vor die Bühnenkante und wedelten und hopsten dort auf und ab, um das Publikum zu animieren, wie es hieß, um gute Stimmung zu verbreiten, wie in den Setpausen immer wieder beschwörend von Frau Änschela Kooper gesagt wurde. Aber niemand tanzte zu ihrer Musik.