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Als Tom vor dem letzten Set zum Toilettenwagen lief, sah er von weit her den Nacken einer Frau, die ihn schwach an Anne Hermanns erinnerte. Ihren hohen Hals unter der aufgetürmten Frisur, Perlenkette, deren Glanz eben im Schatten der Nacht verlosch.

Er blieb stehen und starrte der Erscheinung hinterher, hatte aber keine Lust, sie zu verfolgen. Er stand und blickte ungläubig in die glanzvolle Dunkelheit, Menschen strömten durch die Nacht an ihm vorbei und verschwanden, tauchten mit der Helligkeit ihrer Gesichter auf wie flüchtige Lichter und verglommen. Auch sie, das lag auf der Hand, würden bald sterben. All die Lebendigen, die durch die Festzelte kreuzten und mit den rauschenden Abendkleidern und Cocktailgläsern die Farbe der Nacht in kurzem Rhythmus erhellten, dachte er auf einmal, sind unwichtig geworden. Der Mensch ist unwichtig geworden, dachte er und blickte zu einem sichelmondförmigen Lampion hinauf, das Leben gewinnt nicht etwa an Wert mit dem Wissen um dessen Vergänglichkeit, im Gegenteil, es verliert ihn. Hierüber erschrak er kurz, bevor er sich auch daran gewöhnte und längere Zeit einen Falter beobachtete, der im schwankenden Lichtstrahl der Laterne auf und ab taumelte. Bereits einige Wochen später aber hatte Diedrich die Idee des sogenannten» Worldjazz«. Um sich am Markt zu positionieren, sagte er, sei es unabdingbar, sich abzusetzen, etwas Eigenes anzubieten, etwas, das sie als Band von der Konkurrenz abhöbe. Der Veranstalter, so Diedrich, dürfe gar nicht» die Wahl«haben, sondern er müsse sich regelrecht» gezwungen«fühlen,»sie und nur sie «zu engagieren. Alles andere, Tom habe recht, sei Kackscheiße. Also» Worldjazz«. Aus dem Wörterbuch suchten sie sich eine italienisch klingende Bezeichnung heraus, nahmen französische Musette und argentinischen Tango und drehten alles durch den Jazzmixer, formten daraus etwas, das sich vom Markt absetzte, Maggijazz für Akademiker, ein Zielpublikum, das es sich auch» leisten konnte«, so Didi, ihre CDs zu kaufen. Von da an begann ihr Aufstieg.

In jener ersten Nacht beim Sommerfest des örtlichen Energieanbieters aber hatte Tom zwei wichtige Dinge begriffen: Erstens, dass man auch besoffen Klavier spielen kann. Zweitens, dass man überhaupt Klavier spielen kann und es doch nicht tut. Fortan spielte er zu spielen. Er spielte zu leben, ja sogar wieder froh zu sein mitunter, bis er es selber glaubte.

DAS PONY ODER: GESCHICHTE DER LIEBE, TEIL 2

Ist es nicht so: Gerade dasjenige, das wir am anderen lieben, genau das Eigenartige, aufgrund dessen wir uns in unser Gegenüber verlieben, wird später dasjenige sein, das uns an ihm stört?

Tom Holler glaubte jedenfalls zu wissen, dass seine Traurigkeit, die, weil fremd und geheimnisvoll, Hedda einst so angezogen hatte, zugleich dasjenige war, was sie später abgestoßen hatte, und egal, was als Inhalt eines Ehestreits benutzt worden war, seine Unordnung, sein schlampiges Aussehen, seine Essmanieren, sein Zynismus oder sein Körpergeruch, der manchmal nicht gut war, der dicke, immer noch dicker werdende Bauch, seine Angewohnheit, vom Tisch aufzustehen, ohne ein Geschirr, einen Teller oder irgendetwas anderes mit zurück in die Küche zu nehmen, nicht aus Faulheit, sondern aus Vergesslichkeit (Ignoranz, wie Hedda es formulierte), all diese von Hedda sogenannten Streitpunkte waren seiner Meinung nach nichts als verschiedene Erscheinungsformen des einen Urgrunds ihrer Unzufriedenheit mit ihm, der paradoxerweise genau der Grund gewesen war, sich in ihn zu verlieben: seine Traurigkeit.

Umgekehrt war es genauso: Heddas Eleganz, ihre aufrechte Schönheit, ihre geradeaus wie ein amerikanischer Highway in eine helle Zukunft sich ausstreckende Zielstrebigkeit, ihre Tatkraft, ihr frühes Aufstehen am Morgen, die Eigenheit, immer sofort zu wissen, was zu tun war, im Zug beispielsweise immer eine Sekunde vor ihm den reservierten Platz zu finden, auf dem Stadtplan den richtigen Ort, im Möbelladen das richtige Möbelstück, all das, was er früher bewundert und dem er sich rückhaltlos anvertraut hatte, alles das hatte ihn später aufgeregt, ohne dass er es sich aber hätte anmerken lassen.

Passiv. Dieses Wort war oft gefallen in den letzten Monaten ihrer Ehe. Immer bist du so passiv. Nie tust du etwas. Sag doch auch mal was.

Allerdings war er schon immer das gewesen, was sie passiv nannte. Aber früher hatte sie es gemocht, so wie er ihre Aktivität gemocht hatte. Denn seine Passivität hatte sie für Nachdenklichkeit gehalten. Sein Schweigen für Tiefe. Seinen Zynismus für Ironie. Seine bösen Bemerkungen für Witze, über die sie gelacht hatte. Seine negative Weltanschauung für Philosophie, über die sie gestritten hatten. Seine Kompositionen für Musik. Sein Klavierspiel für Klavierspiel. Seine Liebe für Liebe.

Und vielleicht war es das alles auch gewesen.

Ist man nicht der, fragte sich Holler, den der andere in einem sieht?

Sein Blick ging aus dem Zugabteil hinaus ins Land. Staubiges Land. Staubiges Licht über den Uferstraßen, dem Meer, den Neubauten, von Palmen umstanden, und den Autos. Eine Herde Büffel mit geschwungenen Hörnern. Der Vorhang am Fenster vibrierte. Der Deckel des Aschenbechers klapperte. In der Scheibe spiegelte sich Diedrich, durch dessen Gesicht die Büffelherde zog, ein Palmenhain, eine sich hebende, sich senkende Stromkabellinie. Wenn das Meer hinter der Uferbebauung plötzlich auftauchte, ein Blitzen.

Diedrich hatte ihm Hedda Groning vorgestellt. Er hatte sie ihm vorgestellt, bevor er sie sich selbst fortan vorgestellt hatte, als seine Retterin, als seine Lebensfrau, seine Lebenslösung. Ein riesiger Garten, ein Park, in dessen Mitte auf einer kleinen Anhöhe ein Gutshaus lag, sandfarbenes Gemäuer mit hohen lichtgefüllten Fenstern und einer Freitreppe, über die ein weißes Heer von Kellnerinnen und Kellnern mit bis zum Boden reichenden Schürzen hinab in den Park gestrebt war, um die letzten Anweisungen entgegenzunehmen. Sie aber spielten auf einer Bühne, direkt beim See. Sie spielten Hintergrundmusik, wie es im Vertrag vereinbart worden war. Sie hatten gut angezogen zu sein und nicht aufzufallen. Eine Musik hatte man sich für die Veranstaltung, die irgendetwas mit Kultur und Politik zu tun hatte, gewünscht, eine Musik, die nicht auffällt und trotzdem da ist.

Hedda Groning, die im engen Kleid durch das schattige Grün auf sie zugeschritten war, hatte die Musik aber bemerkt. Schon von der Bühne aus hatte Holler gesehen, wie sie als eine der wenigen mit einem langen Glas in der Hand an einem Baum lehnte und zu ihnen heraufsah. Als Diedrich sie ihm vorstellte, sah er nur ein weißes Lächeln und zwei dunkle Augen, ein allgemeines Bild von einem Gesicht, und erst später am Abend, als er mit einem Glas Whiskey abseits stand und sie zum zweiten Mal in seine Richtung schreiten sah, konkretisierte sich ihre Erscheinung, die offenbar zielgerichtet neben ihm stehen blieb. Er trank seinen Whiskey aus und schwieg, während sie an seiner Seite über die Stehtische hinweg durch den Park in die Ferne sah, denn er vermochte sich nicht vorzustellen, was sie von ihm wollen könnte, außer vielleicht Klavierunterricht.

«Willst du Klavierunterricht?«, fragte er sie, als sie schon lange geschwiegen hatten. Sie lachte. Er zündete sich eine Zigarette an. Sie sagte, sie habe noch nicht darüber nachgedacht. Dann sagte sie:»Ich hätte es lieber, wenn du für mich spielst. «Sie lächelte, ihre Zähne waren hell vor dem dunklen Grün des Gartens, dann drehte sie sich um und ging davon, winkte mit zwei Fingern einmal kurz durch die Luft, den schwingenden Rücken ihm zugewandt, in der sicheren Gewissheit seines Blicks.