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Was er da noch nicht wusste, war, dass in jenem Moment bereits alles entschieden war, denn Hedda Groning hatte immer alles bekommen, was sie sich wünschte. Und ihn, Tom Holler, den sie nie Tom, sondern Thomas nannte mit ihrem etwas trockenen Akzent, hatte sie sich gewünscht. Sie hatte sich ihn in den Kopf gesetzt, wie ein verwöhntes Mädchen sich ein Pony in den Kopf setzt und dieses bekommt und dann bald lästig findet, das dachte er.

Er sah zum Fenster auf den sich spiegelnden Diedrich, der ihn plötzlich an einen Maikäfer erinnerte. Er sah ihn plötzlich mit drahtartigen Fühlern im Zug sitzen, mit einem Chininpanzer um den Bauch und mit auf dem Rücken gefalteten Flügeln. Auf den zusammengedrückten Knien lag eine Papiertüte mit Erdnüssen, die er knackte und sich dann flink in den Mund schob oder Tom reichte. Diedrichs Erdnüsseknacken erinnerte wiederum an die geschäftige Tätigkeit eines Eichhörnchens, wodurch sich der Saxofon und Posaune spielende Kollege in seiner Vorstellung zu einem Mischfabelwesen aus Maikäfer und Eichhörnchen, das er in Gedanken Maichhörnchen oder Aichkäfer nannte, zu verwandeln begann. Er musste lachen. Ein Lachanfall, ein Kitzeln, das sich in seinem Hals ausbreitete und in einem Hustenanfall endete.

«Du solltest weniger rauchen«, sagte Diedrich.

«Stimmt«, sagte Tom. Der Zug hielt in einem kleinen Bahnhof.

«Ach Didi«, sagte Tom, als der Zug sich wieder in Bewegung setzte,»warum sind wir nur so unglücklich?«

«Ich bin nicht unglücklich!«, sagte Didi.

«Doch«, sagte Tom,»du bist auch unglücklich! Im Grunde sind wir alle unglücklich.«

In der Fensterscheibe sah er, wie Diedrich den Kopf schüttelte. So wie er eigentlich immer über ihn den Kopf schüttelte. Nur nicht, als er Hedda geheiratet beziehungsweise Hedda ihn geheiratet hatte, drei Monate nach ihrer ersten Begegnung im grünen schattigen Park. Da war Diedrich zufrieden gewesen und hatte nicht den Kopf geschüttelt. Heddas Eltern dagegen waren entsetzt gewesen. Sie hatten ihn nämlich sofort auf den ersten Blick als das erkannt, was er war, ein dickes, gefräßiges Pony, das ihrer Tochter bald zu klein werden würde. Ein Jazzmusiker, noch dazu ein erfolgloser! Nie würde er die Blicke vergessen, mit denen sie ihn bedacht hatten, während sie um den riesigen hellen Esstisch herumsaßen in der riesigen hellen Diplomatenwohnung, von deren Wänden Ahnenfotografien herabschauten und über ihn die Köpfe schüttelten, was ihm, auch wenn er in sein Kaffeegeschirr sah, nicht entging, ihm ebensowenig entging wie die entsetzten Blicke der Gronings. Über die gesamte Zeit des Kaffeetrinkens hatte er sich das Zusammentreffen seiner Eltern mit ihren Eltern vorgestellt. Während sie am Kaffeetisch saßen und über Jazzmusik und die Situation der Kulturförderung in der deutschen Hauptstadt sprachen, hatte er sich vergegenwärtigt, dass es sich nicht vermeiden lassen würde, dass seine Eltern ihre Eltern kennenlernen würden und umgekehrt und alle vier an einem Hochzeitstischende beisammensitzen und über die Situation der Kulturförderung in der Hauptstadt sprechen würden. Und genau das löste in ihm eine innige Belustigung aus. Als dann Ansgar Groning, der große, schlanke, schöne, bärtige Mann, Kinderfotografien seiner Tochter zeigte, lachte Tom weniger über die kleine Hedda auf Dreirädern, mit Pony! ohne Schneidezähne als vielmehr über die Vorstellung jenes unvermeidbaren Elternzusammentreffens.

Worüber er so gelacht habe, wollte Hedda später wissen. Und Tom sagte es ihr.»Sie werden sich mögen«, behauptete Hedda. Aber Hedda behauptete ja auch, dass ihre Eltern ihn mochten. Wirklich mochten. Und vielleicht stimmte es sogar, vielleicht mochten sie ihn, aber entsetzt waren sie trotzdem, was er ihnen nicht verdenken konnte. Nicht alle, die man mag, würde man der eigenen Tochter als Ehemann empfehlen können, und vielleicht mag man sogar das Pony, muss es aber der Tochter, die Olympiasiegerin im Dressurreiten werden will, aus Vernunftgründen ausreden.

Die Hochzeit kam, und die Eltern mochten sich nicht.

Toms Mutter, die die Fähigkeit und die Angewohnheit besaß, negative Entwicklungen in der Zukunft vorauszusehen, hatte den ganzen Tag über ein bekümmertes Gesicht. Toms Vater war schon am Nachmittag betrunken und tanzte später übertrieben mit allen. Noch später schlief er auf seinem Stuhl ein. Hedda aber fand, alle hätten sich blendend verstanden. Sie verstand sich sogar mit Toms Mutter und umarmte sie immerzu. Trotzdem hatte Tom während der ganzen Veranstaltung den Eindruck, er gehöre hier nicht hin, er sei der Musiker, der sich unerlaubt unter die Gäste gemischt habe, und ihnen fresse er das Essen und saufe er den Wein weg. Spät am Abend aber spielte er für Hedda. Er spielte ihr auf dem Klavier den Liebestraum, dann spielte er ihr von John Lennon» Woman «und sang sogar dazu einen eigens umgedichteten Text, und alle weinten. Hedda weinte und weinte und lachte, und als sie ihn am Klavier lange küsste, schmeckte er ihre Tränen. Er liebte sie und nahm sich vor, fortan nur ihre Freudentränen zu schmecken. Alles wollte er dafür tun, dass sie nur mehr aus Freude würde weinen müssen.

Hedda zeigte ihm alles, denn er kannte ja nichts. Sie zeigte ihm Europa, denn er war fast noch nirgends gewesen. Frankreich. Italien. Monticchio. Und er folgte ihr überallhin. Er lieferte sich ihr aus. Er war ihr Pony. Er hatte ihr alles zu verdanken, nichts Geringeres als sein Überleben. Auch dass er wieder Musik machte, verdankte er ihr. Sie wollte, dass er ihr vorspiele, und weil er den Eindruck hatte, es mache sie glücklich, wenn er ihr vorspielte, und weil es wiederum ihn glücklich machte, wenn er den Eindruck hatte, sie sei glücklich, sie, die womöglich im Gegenteil meinte, das Klavierspielen mache ihn glücklich, weswegen sie ihn vielleicht insgeheim eigentlich nur darum gebeten hatte, aufgrund also dieses vermeintlichen Glücksreigens, dieses Glücksteufelskreises, spielte er ihr vor. Meist improvisierte er für sie. So begann er, Stücke zu schreiben. Jedes verwarf er, sobald es fertig war. Trotzdem studierten sie die Kompositionen mit dem Quartett ein, das sie, weil sich Mediterranes besser verkaufte, mare-Quartett genannt hatten und das neuerdings von einem Bekannten Heddas, einem ehemaligen Musikredakteur vom Deutschlandradio namens Jens-Christian Hepp und dessen Konzertdirektion» J.-C. Hepp «vertreten und bekannt gemacht wurde. Das mare-Quartett und sein Worldjazz» im Grenzgebiet zwischen Swing, Tango und experimentellem Jazz «entwickelten sich in Liebhaberkreisen zum Geheimtipp und bald auch zu einem bescheidenen Verkaufserfolg, der für Jazz, hieß es, beachtlich sei. Sie bekamen Preise, sie gingen auf Tour, sie produzierten im Lauf der Jahre fünf CDs, die Tom, sobald sie fertig waren, verwarf und nicht mehr hören konnte.

Sie hatten Geld. Sie hatten schöne Möbel. Sie hatten sich. Und zum ersten Mal im Leben hatte Tom Holler ein Auto, einen Audi A4/Kombi, mit dem er seinen Vater richtig beeindruckte. Sie waren glücklich. Aber schon da, als sie glücklich waren, fragte sich Tom, was es war, das Glücklichsein, ob er ihm trauen dürfe. Und gerade in den Augenblicken des größten Glücks, mit Hedda am Flughafen in Rom, als das Gepäck nicht kommt, mit ihr bei einem Picknick, als es anfängt zu tröpfeln, bevor sie im strömenden Sommerregen miteinander schlafen, in der neuen Wohnung, wo sie die Tapeten von den Wänden kratzen, dann Pause machen, ein Bier trinken und eine Zigarette rauchen, und am frühen Morgen, als er aufwacht und Heddas Blick sieht auf seinem Gesicht, gerade in jenen vollkommensten Glücksmomenten traute er diesem Glück nicht, weil er sich nicht vorstellen konnte, wirklich glücklich zu sein. Weil er nicht glauben konnte, dass dies ein richtiges Glück sei. Und weil in das Glück die Erinnerung einbrach.

Das Ende hatte vielleicht früher angefangen, als ihm bewusst gewesen war. Vielleicht bereits ganz am Anfang, im Anfang des Anfangs, als Hedda scherzend über Kinder gesprochen hatte. Und er, ebenfalls scherzend, ein Horrorszenario von sich als einem Vater an die Wand gemalt hatte. Und als sie später ernsthaft über Kinder sprach, er aber noch immer darüber scherzte, war es vielleicht schon zu spät. Er hatte es ihr, da waren sie noch kein Paar, schon bei ihrer zweiten Begegnung in einem Café am Prenzlauer Berg gesagt: Er wolle kein Kind. Er wolle erst dann ein Kind, wenn er das Kind selber vorher fragen könne, ob es geboren werden wolle. Sonst nicht. Sie hatte gelacht.