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Als es ihm eines Tages auffiel, dass sie ihn nicht mehr bat, etwas auf dem Klavier zu spielen, da bat sie ihn schon lange nicht mehr darum. Und eines Tages störte es sie sogar, wenn er Klavier spielte. Und es störte sie, wie er sein Hemd über die Hose hängen ließ. Und er hatte den Eindruck, sie sei glücklicher, wenn er zu einer Konzertreise aufbrach, als wenn er zurückkam. War er zu Hause, dann störte sie vieles. Sein Klavierspiel, sein über die Hose hängendes Hemd, seine späte Aufsteherei. Wenn er aber auf Reisen war, dann störte sie all das nicht. Dann vermisste sie ihn am Telefon, liebte sie ihn durchs Telefon, redeten sie viele Stunden, er angezogen im Hotelbett liegend, rauchend, was sie nicht störte. War er zu Hause, dann störte sie aber schon nach wenigen Tagen nicht nur sein Rauchen, sondern mehr oder weniger alles an ihm. Und er konnte es ja verstehen, denn auch ihn störte mehr oder weniger alles an sich selbst. Und er wusste, dass Heddas Liebesscheinwerfer nicht ewig brennen konnte, dass die vorteilhafte milde Beleuchtung einer Helligkeit weichen würde, die ihn zeigen würde als das, was er wirklich war. Seine vermeintliche Tiefe: Trägheit. Sein vermeintlicher Witz: Zynismus. Seine Philosophie: Destruktivität. Seine Kreativität: Schlampigkeit. Seine Musik: Langeweile. Seine dunklen Haare: Ungekämmt. Seine schönen braunen Augen: ein trauriger Anblick. Seine Großzügigkeit: Lebensunfähigkeit. Seine Karriere: Scheitern.

Im Grunde, das dachte er, war das Missglücken ihrer Ehe nichts anderes gewesen als Heddas langsame Erkenntnis.

Je mehr sie ihn erkannt hatte, desto häufiger kam die Erinnerung zurück. Und auch die Fragen, die er geglaubt hatte als nicht beantwortbar abgelegt zu haben, kehrten wieder, all die komplizierten Wenn-Konstruktionen, die er durchdeklinierte wie lateinische Grammatikübungen: Wenn Marc nicht, dann Betty, dann Hedda nicht. Und so weiter, in allen erdenklichen Variationen. Als sie die Scheidung wünschte, war er nicht überrascht. Fast war er erleichtert. Er wusste es nicht, dachte er im Zug sitzend, ob sie Dr. Lutz Wegener da schon gekannt, geliebt hatte, es war nicht wichtig. Wichtig war, dass Hedda sich selbst und ihn aus dieser Ehe befreit hatte. Denn er hätte es niemals getan (»nie tust du etwas«). Als sie dann ausgezogen war mit ihren vielen Dingen und Möbeln und Schuhen, war es ihm nicht besser und auch nicht unbedingt schlechter gegangen, was ihn überraschte. Er hatte geglaubt, dass sich etwas ändern müsse. Es hatte sich aber nichts geändert. Die einzige Veränderung war gewesen, so dachte er im Zug sitzend, dass er das, was in ihm war und die ganze Zeit über schon in ihm gewesen war, jetzt offen zugab. Er ließ sich gehen, wie man es hätte nennen können. Er ließ sich, so nannte er es, wie er war.

Als sie im Winter ihre so bezeichnete Kreativitätspause einlegten, nicht zuletzt, damit er sich von der Trennung würde erholen können, und er daher von einem Tag auf den andern keine Termine, keine Proben, keine Verpflichtungen mehr hatte, nicht einmal die Verpflichtung, sich zu kämmen und seinen Kram wegzuräumen, da meinte er plötzlich zu spüren, was das Leben sei. Das Leben sei nichts als das Leben. Nichts tun. Sich nicht ablenken durch Arbeit, durch Frauen, durch Ehe, womöglich durch Haustiere, Kinder, Musik, nein: Einfach dasitzen ohne jede Tätigkeit, auch ohne fernzusehen, nur und ausschließlich zu leben. Es war eine Aufgabe, die er nicht meisterte.

Natürlich nicht, dachte er im Zug sitzend. Natürlich habe ich es nicht gemeistert, ich habe es natürlich nicht ausgehalten, sondern habe mich schon nach wenigen Wochen postwendend umbringen wollen! Und auch das habe ich nicht geschafft, dachte er Erdnüsse essend, die Diedrich ihm reichte. Und ferngesehen hab ich auch. Und wie ich mich zu Silvester an meinen, an Marcs Flügel gesetzt habe und das Meisterwerk geschrieben habe, während draußen ein neues Jahr anbrach, der Himmel in Flammen, meine» Feuerwerksmusik«, die sich schon am nächsten Tag, dem Neujahrstag, als ein epigonales, von meinem einzigen Freund und Musiker Marc geklautes plagiatorisches Machwerk herausgestellt hat. Aber schön gebrannt hat es immerhin.

Und jetzt fahre ich nach Neapel, dachte er im Zug, und bin glücklich, obwohl ich eigentlich unglücklich bin. Noch vor ein paar Tagen habe ich mich umbringen wollen, und jetzt bin ich schon wieder glücklich. Ich gehe mit einer Studentin der Kulturwissenschaften durch die Museen, erleide einen Schwächeanfall, betrinke mich und schlafe mit ihr zusammen ein, ohne dass außer Knutschen irgendetwas passiert wäre, und bin glücklich. Ich bin ein versoffenes Wrack und bin glücklich. Ich denke an Hedda, die ich unglücklich gemacht habe, und bin glücklich. Ich denke an Betty Morgenthal, die ich unglücklich gemacht habe, und bin auch glücklich. Ich denke an Marc, den ich umgebracht habe, und bin glücklich. Sogar Diedrich von Jagow, wie er dort sitzt und Erdnüsse schält und wegen seiner Physiognomie an ein Maichhörnchen oder einen Aichkäfer erinnert, macht mich in diesem Moment glücklich, obwohl ich ihn noch vor einer halben Stunde unerträglich gefunden und ihm gegenüber behauptet habe, wir alle seien im Grunde unglücklich. Ich fahre nach Neapel, und sofort bin ich glücklich!

Holler staunte. Das Glück füllte ihn warm und ballonartig aus, hob ihn etwas vom Sitz empor und nahm ihm gleichzeitig den Atem.

Weil er lächelnd aus dem Fenster in einen kleinen Bahnhof hineinsah, merkte er nicht, wie Diedrich ihn musterte, wie dieser sein Lächeln zur Kenntnis nahm und sich darüber wunderte und schon wieder, kaum wahrnehmbar, den Kopf über ihn schüttelte. So fuhren sie nach Neapel.

NAUFRAGIO — SCHIFFBRUCH

Morgens um sieben Uhr fünfunddreißig kreuzte Betty Morgenthal mit riesiger Sonnenbrille, in der sich die vom Verkehr zerwühlte, zerrissene Stadt, die hohen Gassen, vespaumbrausten Plätze, breiten Boulevards und Passanten mit Sonnenbrillen spiegelten, die Via Toledo, den Blick geradeaus gerichtet, ungeachtet des heranbrandenden Autoverkehrs, der unmittelbar vor ihren Füßen anhielt, weil sie es nicht tat, und strebte, den Strom der Autos teilend, ans andere Ufer aus Mauern und Stein. Sie ging geradewegs auf die Plakate zu, die in breitformatigem DIN-A0-Vierfarbdruck das mare-Quartett zeigten, das am Abend im Teatro Augusteo mit seinem aktuellen Programm» Naufragio «gastierte.

Heute Abend, dachte sie und sah im Vorbeigehen, wie die vier Musiker auf dem etwas grünstichigen Foto bis zur Brust im Wasser standen, angezogen mit Anzügen, sogar mit Fliegen um den Hals. Um sie herum verteilten sich, auf der Wasseroberfläche treibend, Notenblätter und Instrumente. Da blieb sie stehen. Naufragio. Schiffbruch. Tom Holler, vor dem ein kleines Casio-Keyboard trieb, reichte das Wasser fast bis an die Schultern, er war der kleinste von allen. Er war zweifellos er.

Das Poliklinikum empfing sie freundlich mit seinen Gängen und Sälen und Türen, die sich fest hinter ihr verschlossen, was sie beruhigte. Selbst Carlo, der in einem der Flure offenbar auf sie gewartet hatte, erschien ihr beruhigend. Er hielt sie an den Handgelenken fest und zog sie durch eine offen stehende Tür in die weiße Leere eines frisch getünchten Zimmers.»Hör zu«, sagte sie zu ihm.»Hör du zu«, sagte er zu ihr. Sie schüttelte den Kopf.»Also?«, sagte sie. Aber er sagte nichts. Also sprach Betty Morgenthal. Mit vor der Brust verschränkten Armen ging sie im quadratischen Zimmer, im weißen stechenden Lackgeruch hin und her und sprach zu ihm wie zu einem Angehörigen, dessen Angehörige paradoxerweise sie selber war. Es führe zu nichts, sagte sie. Sie möge ihn, aber nicht mehr und nicht weniger. Sie sei verheiratet, wie er wisse, sagte sie, außerdem viel, viel zu alt für ihn. Sie passten nicht zusammen. Es sei ein Fehler gewesen, sich mit ihm zu treffen und alles. Sie blieb in der Mitte des Zimmers stehen und sah ihn, der flach an die Wand gepresst war, aus der Mitte heraus an. Es tue ihr leid.»Es ist frisch gestrichen, Vorsicht«, sagte sie. Sie verließ das Zimmer, warf ihm nur noch einen winzigen Seitenblick zu, der von der Größe und Dunkelheit seiner Augen abgelenkt wurde.