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Du bist widerlich, dachte sie im Hinausgehen. Und während sie sich umkleidete und auch im Operationssaal, wo Carlo Vitelli glücklicherweise an diesem Tag keinen Dienst tat, da dachte sie immer wieder, du, Betty Morgenthal, bist echt widerlich.

Wenn man einander verstehen könnte, dachte sie, als sie sich im Assistentenzimmer die Hände wusch, die längst sauber waren, und in den Spiegel sah. Wenn ein Mensch einmal einen anderen wirklich verstehen könnte. Wenn man sich mitteilen könnte, einem andern. Und der einen verstünde. Aber du, sagte sie sich, verstehst ja nicht einmal dich selber.

Irgendwann am langen Nachmittag, als sie eine Schwangere für einen Kaiserschnitt intubiert hatte und die Lage des Schlauchs auf dem Monitor überprüfte, fragte sie sich, ob sie Tom je verstanden hatte oder Marc. Ob sie überhaupt irgendeinen Menschen je verstanden hatte, oder ob sie von irgendjemandem je verstanden worden war. Sie kam zum Ergebnis: Nein. Das Neugeborene schrie. Alles Reden, dachte sie, während sie sich im Vorzimmer die Hände wusch, die längst sauber waren, und in den Spiegel sah, ist nie etwas anderes gewesen als ein Übertönen des Nichtverstehens. Das Neugeborene schrie.

Die weiße große Uhr an der Wand zeigte mit ihrem Zeiger auf eine Zahl. Drei Stunden bis acht. Eine Strecke von drei Stunden trennte sie von Tom Holler. Eine Strecke, auf der sie noch abbiegen könnte, irgendwohin. Sie blieb im Vorzimmer vor dem Spiegel stehen, Hände auf das Waschbecken gestützt. Das Neugeborene schrie noch immer nebenan. Sie betrachtete die weißen Kacheln. Die bunten Aufkleber, die irgendjemand irgendwann daraufgeklebt hatte. Sie wunderte sich darüber, dass die Blumenaufkleber ihr noch nie als solche aufgefallen waren. Obwohl sie sich jeden Tag mehrere Male an diesem Waschbecken die Hände wusch, hätte sie bis heute nicht sagen können, ob und welche Aufkleber auf den Kacheln klebten.

Als die Tür aufging, wusste sie, dass es Carlo Vitelli war, der sie öffnete. Sie blieb am Waschbecken stehen und sah ihn im Spiegel auf sich zukommen. Sah, wie er eine Hand auf ihre Schulter legte, wie diese schmale, behaarte Hand sich anspannte, ihren Griff verfestigte, um ihren Oberkörper zu sich zu drehen. Und sie ließ es zu. Sie ließ sich vom Waschbecken und den Blumenaufklebern wegziehen und folgte ihm hinaus auf den Flur und durch eine Tür in eine kleine Abstellkammer, in der die Putzfrauen ihre Sachen aufbewahrten. Dort roch es nach Keller und Reinigungsmittel. Kein Fenster, etwas Neonlicht kroch aus dem Flur unter der Türritze hindurch. Betty stand an die Wand gedrückt, rechts neben ihr der Stiel eines Besens, der auf ihre Schulter kippte, als Carlo begann sie zu küssen und ihr mit der einen Hand den Pullover hinaufschob und mit der anderen ihre Hose öffnete. Ein Eimer klapperte, fiel um. Die Dämmerung lichtete sich ein wenig, da die Augen sich gewöhnten, Regale hoben sich aus der Dunkelheit, mit Flaschen darin, Putztüchern, Eimern. Ein Paar Gummischuhe. Er zog ihr die Hose herunter, ging in die Knie dabei, riss ihren Slip hinunter, und sie stieg mit einem Bein hinaus und wartete, bis er seine Hose geöffnet hatte und sie umarmte, bevor sie das freie Bein, an dem es kalt wurde, um seine Hüfte legte und er in sie eindrang. Er stöhnte und küsste ihren Hals, der nass, kühl wurde von seinem Speichel, sie aber spürte außer etwas Schmerz nichts, fand es nur unbequem auf ihrem einen Bein und dachte an Tom und Alfredo, dann an einen Krebspatienten auf der Chirurgischen, und dann an die Blumenaufkleber. Sie war froh, dass er bald kam, wofür er sich entschuldigte, was sie schrecklich fand, aber sagen, dass sie froh sei, dass es vorbei war, konnte sie auch nicht. Also sagte sie nichts, nur dass sie jetzt gehe, weil sie nach Hause müsse, denn ihr Mann erwarte sie, was nicht stimmte. Ihr Mann war nämlich in Rom. Immer war er in Rom, wenn man ihn brauchte, so kam es ihr auf einmal vor.

Die Wohnung war leer. Vielleicht lag es daran, dass er aufgeräumt hatte, bevor er gefahren war, denn sofort spürte man, dass Alfredo über Nacht fort sein würde, obgleich man hätte denken können, eine leere Wohnung sei eine leere Wohnung, aber es gibt zwischen einer leeren und einer leeren Wohnung einen großen Unterschied. Auf dem Küchentisch stand ein Blumenstrauß, ein Zettel lag daneben,»Bis übermorgen, Du weißt schon …, Dein A«. Sie weinte. Sie duschte sehr lange und weinte, und im Weinen ärgerte sie sich über ihr Weinen und befahl sich aufzuhören, denn Tom brauchte nicht sofort zu sehen, dass sie geweint hatte. Das warme Wasser strömte über ihr Gesicht, verdünnte die Tränen.

Lange stand sie in Unterwäsche vor ihrem Kleiderschrank und sah hinein. Aber die Kleider, die sie anziehen würde, kamen nicht zu ihr heraus. Sie hätte jemanden gebraucht, der ihr ein Kleid ausgesucht, ihr das Kleid angezogen hätte. Alfredo war jemand, der ihr ein Kleid anziehen würde, wenn sie es bräuchte, aber Alfredo war in Rom. Sie fror. In Unterwäsche wartete sie vor dem Kleiderschrank und hatte Gänsehaut am ganzen Körper, und zum allerersten Mal dachte sie, dass sie sich vorstellen könne, Alfredo habe in Rom eine Affäre. Sie konnte es sich vorstellen, und sie tat es, während sie in den Kleiderschrank hineinsah. Alfredo mit Geliebter in einem römischen Bett, aber sie stellte es sich vor als eine Geschichte, wie man sich einen Film, eine Erzählung, ein Märchen vorstellt, die nichts sind als Erfindung. Dass sie sich seiner so sicher war, erstaunte sie.

Die Kälte des Schlafzimmers strich über die Härchen ihres Körpers wie ein Lufthauch. Sie blickte an sich hinab. Die vom Büstenhalter flachgedrückten Brüste, der sich etwas vorwölbende Bauch, das Becken, das knochig rechts und links hervorstand, die Oberschenkel, leicht sichelförmig, die immer noch schlank waren, aber weicher wurden, sich von innen her auflösten, so erschien es ihr. Ihr Blick hielt bei den Füßen an. Das Ende ihres Körpers. Ob er ihn nach so vielen Jahren, diesen von innen heraus sich auflösenden Körper, erkennen würde? Was ist es, dachte sie, das man erkennt? Sind es die Hautzellen, die sich doch ständig, jährlich, ja monatlich austauschen, erneuern? Was am Gesicht, dachte sie, erkennt man? Ist es nicht gerade das Veränderlichste von allem, das Vergänglichste, sind es nicht Haut, Fettzellen, Collagengewebe, die man dennoch erkennt, während das Haltbarste, nämlich das Knochengerüst, die Schädelform eines Menschen, erkennen zu wollen mit weit größeren Schwierigkeiten verbunden wäre?

Sie sah, dass sie zitterte. Ihre Zehen krallten sich in den Steinboden. Wir bräuchten mal einen Teppich, dachte sie. Einen Schlafzimmerteppich. Wir bräuchten mal ein Kind. Gymnastik, dachte sie und strich mit ihren Händen über ihren Bauch. Ich sollte mal anfangen, Gymnastik zu machen.

Wie sie da so stand, an diesem kalten Ort, der ihr Schlafzimmer war, festgeschraubt wie ein Figürchen in einer Spieluhr, die man nicht mehr aufzog, vergingen viele Minuten, was von der in ihren Kleiderschrank hineinsehenden Betty nicht bemerkt wurde, bis sie sich endlich ohne ersichtlichen Grund, wie aufgedreht von irgendjemandem, weiterbewegte, eine Hose und eine Bluse aus dem Schrank riss, sie anzog, auszog und sich eine andere Hose und eine andere Bluse griff und diese anzog und wieder auszog. Wieder stand sie in Unterwäsche vor dem Dunkel ihres Kleiderschrankes, und ihr Blick fiel auf das blaue Prinzessinnenkleid, das ihr Alfredo vor vielen Jahren in einer Boutique in der Via Chiaia gekauft hatte, und seinen ausgerissenen Saum. Sie hatte es für Alfredo getragen, sie hatte es für Carlo getragen, aber Tom, dachte sie, würde das Kleid sofort lächerlich finden, er war der Einzige, der es lächerlich finden würde an ihr, unpassend wie eine echte, zu große, daher schief sitzende und zu schwer wiegende Krone auf dem Kopf einer Faschingsprinzessin. Was hatte sie damals für Tom getragen? Was hatte sie für Marc getragen? Was für die Eine-Nacht-Bekanntschaften in Bologna, was für den Tübinger Alex, für Diedrich von Jagow, für ihre Eltern, ihre Klassenkameraden, die Menschen auf den Plätzen, was für De Santis, die Schwiegereltern, was würde sie für ihre Kinder anziehen, wenn sie welche hätte, dachte sie, ins unübersichtliche Dunkel ihres Kleiderschrankes hineinschauend, worin die heutigen und die damaligen Kleider, die Kleinmädchenkleidchen, die Achtziger-Jahre-Sweatshirts, die T-Shirts mit Löwengesicht, mit Micky Maus, der Hundeparka mit Rotmütze, die Sängerinnenblüschen und die Krankenhauskittel, die gegenwärtigen Jeans und die zukünftigen auf ein und derselben durch die Zeit führenden Stange durcheinander zu hängen schienen. So viele Kleider! dachte sie. Nur aus Angst vor der Nacktheit, aus Angst vor dem als Falschprinzessin-Entdecktwerden, kleiden wir uns an und an, und dadurch verlieren wir uns. Und weil sie fürchtete, dass Tom sie entdecken würde, dass er sie durch das in der Erinnerung womöglich noch gesteigerte psychedelische Geflimmer seiner Vorstellungen hindurch erkennen, dass er sie entkleiden würde, hatte sie sich umso sorgfältiger anzuziehen, beschloss sie, am besten etwas nachlässig, um zu signalisieren, dass sie ihrem Treffen nicht allzu viel Bedeutung beimaß. Und da fiel ihr plötzlich die Zeit ein. Sie lief in die Küche und sah, dass es spät war. Sie lief ins Schlafzimmer und zog nun tatsächlich irgendetwas an.