Als sie in der Funicolare stand, eingehängt mit dem Handgelenk in den schwankenden Haltegriff, und an den Gesichtern der Fahrgäste vorbei und tief hineinsah in die dämmrige Flucht der Bahn, erwog sie die Möglichkeit, nicht zum Konzert zu gehen. Stattdessen nach Rom zu fahren, zu einem überraschten Alfredo, eine Nacht in Rom gemeinsam zu verbringen, was ihr plötzlich ebenso romantisch wie richtig erschien.
Sie stieg aus an der Endstation, Piazzetta Duca D’Aosta, ging über den quadratischen Platz, zögerte und verlangsamte den Schritt. Als sie am hohen Eingangsportal des Teatro Augusteo angelangt war, blieb sie stehen. Sah das Plakat. Naufragio. Schiffbruch. Sie streckte die Hand aus, ihre Finger umschlossen den kühlen Messingknauf der Tür, die sich öffnete, und langsam durchschritt sie das menschenleere, hell erleuchtete Foyer, lief unter Kristallleuchtern, die im Luftzug zu schwanken schienen, vorbei am gläsernen Kassenhäuschen, das bereits nicht mehr besetzt war, in die Weite des Vorsaals, aus dessen Hintergrund, einer mit rotem Samt verhangenen Garderobe, ein älterer Herr sich löste wie aus einem Gemälde, indem er plötzlich lebendig wurde und auf sie zueilte. Sie drehte sich um und wollte hinaus.
«Signora«, rief der Mann in ihrem Rücken.»Möchten Sie noch hinein? Haben Sie eine Karte?«
Sie blieb stehen. Sie nickte. Eine Karte, sagte sie, sei zurückgelegt, auf ihren Namen. Der ältere Herr, der beim Gehen hinkte, betrat das Kassenhäuschen und suchte und grub in einem hölzernen Kästchen. Vielleicht hat er es vergessen, dachte, hoffte Betty. Der alte Herr aber fand die Karte, reichte sie ihr aus der ovalen Öffnung und sprach zu ihr eindringlich, dass sie sich beeilen müsse, er bringe sie hinein, und hinkend ging er voran, wies ihr den richtigen Treppenaufgang, öffnete ihr eine mit Samt bespannte Tür, nannte ihr den Platz, Reihe vier, Mitte. Sie dankte ihm, lief ins Dunkel des Theatersaals, stieg die weiten, flachen Stufen hinab und drängte sich in die vierte Reihe, wo die Kette der Zuhörer, um sie hindurchzulassen, ein Glied nach dem andern sich langsam, unwillig erhob. Theatergeruch umschloss sie, Parfum, Staub, altes Holz und Körperausdünstungen. Die Stille, ein gespanntes Atmen, Hüsteln, Rascheln. Und die Stille wich einem Applaus, der zögernd in den ersten Reihen begann, als das Licht vorn aufging und die Musiker erschienen, zunächst Ulrich, dann derjenige, den sie nicht kannte, dann Tom und schließlich Diedrich.
Ich sehe ihn, und er sieht mich nicht, dachte sie. Und es war dies erstaunlich, ihn, der sie nicht sehen konnte, so nah vor sich zu haben, keine zehn Meter entfernt, während sie selbst ein Teil der anonymen Menge war, die von dem sie umgebenden Publikum gebildet wurde, unsichtbar im Dunkel des Zuschauerraums. Sie war sicher. Ihr Blick aber lag auf ihm, betastete ihn ungläubig ganz, von Kopf bis Fuß, und wich erst aus und sprang zu Didis Saxofon hinüber, als sie meinte, er erwidere ihn, was aber im Scheinwerferlicht, wie sie wusste, unmöglich war. Tom setzte sich an den Flügel, wie sie ihn oft an einen Flügel sich setzen gesehen hatte, nur aus anderer Perspektive, und unter Hunderten sich an einen Flügel setzenden Pianisten hätte sie ihn erkannt, auch ohne sein Gesicht zu sehen. Die vornübergebeugten Schultern, die abwartende Haltung des geneigten Kopfes, als höre er dort im Innern bereits auf die ersten Töne, ein in sich versunkenes Dasitzen, kein Warten. Das Licht veränderte sich, zog sich zurück und kehrte wieder, von Blautönen beschwert. Tom hob das Kinn und fing Diedrichs Blick. Er spielte.
DAS VORSPIEL
Er spielte. Er hatte es lange als sein eigentliches Unglück betrachtet, beim Spielen nichts mehr zu empfinden. Anfangs hatte er noch einen unbestimmten Schmerz gespürt, wie beim Betrachten eines Fotos oder dem zufälligen Fund des handgeschriebenen Zettels eines geliebten Verstorbenen, aber schon nach kurzer Zeit hatte sich das verloren, war in der Wiederholung abgeklungen wie unter einem Betäubungsmittel, bevor letztlich gar nichts mehr zu spüren gewesen war, weder Schmerz noch Glück, wenn er spielte. Sein Instrument, das ihm vorher ein Zauberding gewesen war, Zwitterwesen zwischen Materie und Geist, war zu einem mechanischen Gerät geworden, einem Arbeitsinstrument, mit dessen Hilfe er Geld verdiente, um sich am Leben zu erhalten, einem Leben, an dem ihm nicht besonders viel lag. Wenn er Klavier spielte, war es so, als streichle man einem Querschnittsgelähmten die Beine.
Erst als er begonnen hatte, Hedda vorzuspielen, war es anders geworden. Eine Erinnerung an die Gefühle von früher war in ihm aufgegangen. Es war, als hörte er auf das, was er spielte, durch sie, durch ihre Ohren, ihr Gehirn, und er lernte, wieder zu gehen. Zwar ging sein Musikempfinden am Stock, es hinkte und hatte nicht die überdimensionierten Flügel, die ihn als Kind oder später mit Marc, mit Betty hatten abheben lassen, über Zeit und Raum und Proberaum hinausgetragen hatten wie einen über den Himmel schießenden Segelflieger, immer höher, immer weiter entfernt von einem kleiner werdenden blauweiß marmorierten Weltkügelchen unten. Das nicht. Aber wenigstens saß es jetzt nicht mehr im Rollstuhl, das Musikempfinden, sondern es ging zu Fuß und es meldete, stach man mit einem Ton hinein oder fuhr sanft darüber, Schmerz oder ein gedämpftes Glück. Die emphatischen Ausreißer nach oben und unten aber waren verschwunden, und vielleicht, so hatte er gedacht, war es einfach das Alter, das ganz normale, allgemeine Alter, das sich von der Jugend durch ein gemindertes Gefühl unterschied, ein Umstand, den man mit den Begriffen Vernunft oder Erwachsensein oder Ernst des Lebens zu umschreiben gewohnt war.
Ein Musiker aber darf den Ernst des Lebens nicht anerkennen. Ein Musiker darf nicht erwachsen werden. Er darf nicht vernünftig sein. Aber es ist schwer, ein Kind zu bleiben. Aber es ist auch schwer, erwachsen zu werden, weil alles schwer ist im Leben. Das Leben im Allgemeinen, davon war Tom Holler ausnahmsweise überzeugt, ist schwer.
Während er am Nachmittag durch Neapel gelaufen war und eine Herrenboutique gesucht hatte, um Kleider einzukaufen, was sich als unmöglich herausgestellt hatte, weil alle Geschäfte bis sechzehn Uhr geschlossen waren, auch die Friseure, hatte er sich zum ersten Mal seit Monaten auf ein Konzert gefreut. Er würde jemandem vorspielen. Er lief an herabgelassenen eisernen Jalousien vorbei durch das trotz der Siesta lärmende Neapel, das ihn gleichzeitig erschreckte und elektrisierte und ihm auf einmal als ein Sinnbild des Lebens selbst erschien: erschreckend und grausam, verkommen und vital, schön, ungerecht und egoistisch und zum Untergang bestimmt, aber er hatte gelächelt und gedacht, dass es ihm egal sei, denn er würde für jemanden spielen. Lange Zeit stand er an einer breiten, vielspurigen Straßenkreuzung unweit des Hotels Marina am Lungomare, die er nicht überqueren konnte, weil kein Auto sich von den Lichtsignalen einer Ampel aufhalten ließ, und wartete, das unerreichbare delphingraue Meer im Blick, dessen Salzgeruch er zwischen den Autoabgasen mehr erahnte als roch, und er dachte, dass er sich zum ersten Mal seit langem auf ein Konzert freue, worüber er sich freute. Lange blieb er an der Ampel stehen und betrachtete über die Straße hinweg das Meer.