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Am frühen Abend saß er in der Garderobe des Teatro Augusteo und sah viele Minuten lang unverwandt geradeaus in den Spiegel, und wieder bemerkte er nicht Diedrichs Gesicht, das rund wie ein Zifferblatt in der Scheibe stand und ihn nachdenklich betrachtete. Es sei Zeit, sagte er.

Als er in den Lichtraum der Bühne trat, war es, als komme er in ein Zimmer, in welchem jemand saß und schon lange auf ihn wartete. Sehen konnte er nichts außer dem Licht und dem blendenden Dunkel, das von ihm ausging, aber trotzdem blickte er in diejenige Region des schwarzen Raums, in der er Reihe vier vermutete. Der Applaus verklang, und die Stille wuchs an, die lebendige, gebändigte Stille vor dem ersten Ton.

Er spielte. Er spielte vor. Sie saß ihm gegenüber, die Lider halb geschlossen, in einem Sessel. Eigentlich erwartete er ihren Gesang. Mit seinem Klavierspiel errichtete er ein Zimmer, vier Wände, die er um sie beide herumzog. Aber es gab Fenster, die er spielend öffnete. Und dahinter die Landschaften, von den Morgenaufgängen durchglüht. Die Winterstille über einem See. Die Nacht mit Mond und Sternen. Und während er spielte und improvisierte, war es, als zöge er all diese Landschaften wie zweidimensionale Bühnenprospekte vor ihren Fenstern vorbei. Dann schloss er die Fenster und schlug ein Buch auf und las ihr die alten Geschichten. Ein Tango, natürlich in Moll, e-Moll (Diedrich:»You can’t beat e minor«),»T’aspetto e nove, ich erwarte dich um neun«, und während er sich immer mehr von der Grundtonart entfernte, sich vom punktierten Rhythmus löste und in freie Jazzpatterns überging, erzählte er ihr vom verzweifelten Liebhaber, der Abend für Abend, Jahr für Jahr, um neun sich an alter Stelle einfindet, um auf seine Geliebte zu warten, die längst nicht mehr kommt.

Im Dreivierteltakt berichtete er von der» Passione amara«, einer bitteren, einer ewigen, weil nie erfüllten Sehnsucht, von einer Trunkenheit, ohne je zu trinken, erzählte er ihr, indem er manchmal den Takt so sehr verzögerte, dass die Verbindung zwischen den Tönen abriss, dass sich die Stille zwischen sie schob, die bloße leere Zeit, die zu stehen, kurz Atem zu holen schien, bevor der Walzer fortfuhr, umso wilder zu tanzen, als wisse er plötzlich um diese Zeit. Und er fügte noch einen Epilog in Dur an, der die Melodielinie des Chorus in ihrer harmonischen Umkehrung wieder aufnahm, der ihm plötzlich eingefallen war und als das Zwingendste überhaupt erschien.

Diedrichs Ansagen überhörte er. Er hörte, dass das Publikum wie immer lachte, raunte, aber er wusste nicht, weshalb. Er riss die Fenster auf und deutete hinaus, zeigte ihr alles, was in diesen Liedern verborgen war, und entdeckte plötzlich Dinge darin, die er selber nicht gekannt hatte.

Zuletzt ein weites, an Beethovens Mondscheinsonate angelehntes Intro, das sich aus einer triolischen Bewegung heraus langsam steigerte, füllte, auffächerte und wie eine Meereswoge sich ballte, anstieg, aufflog und schließlich brach:»Guarda che luna, schau, was für ein Mond!«, will da jemand rufen, will es ihr zeigen, seiner Geliebten,»guarda che mare, was für ein Meer«, wem sonst als ihr, denn sie ist die Einzige, die es verstünde, dort am einsamen Strand, wo der Mensch winzig klein und kaum sichtbar ist gegen das große, ihn überwölbende Schwarz. Sie aber hört ihn nicht, den Geliebten, die blöde Kuh, denn sie hat ihn verlassen und sitzet jetzt unter der brennenden Küchenlampe und speiset jetzt zur Nacht mit einem andern. Nur das Meer hört ihn und das weiße Gesicht des gleichgültigen Mondes. Am dramatischen Schluss ein letztes Aufrauschen, ein vollgriffiger rasender Lauf von den untersten Bässen bis in den hellsten Diskant, dissonant, schrill, laut, ein Aufschrei im Innern, der aber nicht, niemals die Natur außen übertönen wird, das Rauschen und Lärmen des Meeres.

Der Applaus am Ende des Programms überraschte ihn nicht eigentlich, er hatte ihn nur jetzt noch nicht erwartet. Sie standen am Bühnenrand, blickten ins Scheinwerferdunkel, verbeugten sich, gingen seitlich ab. Es war, als wäre etwas zerrissen durch diesen Applaus, eine hauchdünne Haut, die ihn von der Welt, von diesem Theaterraum abgeschirmt hatte. Plötzlich stand wieder alles um ihn herum da. Der seitliche Bühnengang mit der Notbeleuchtung, der alte abgeschabte Zweitflügel auf der Hinterbühne, eine halbleere Mineralwasserflasche auf einem an der Wand angebrachten Stromkasten, die Seile, die Verbotsschilder, die Feuerleiter. Diedrich und die anderen. Diedrichs schwer zu interpretierender Gesichtsausdruck. Sie spielten drei Zugaben. Sie spielten noch zwei Zugaben, verbeugten sich, und sein Blick stach durch das blendende Dunkel, suchte sie, und als das Licht im Zuschauerraum anging, sah er sie dort unten sitzen, Reihe vier, Mitte. Sie schaute zu ihm herauf und lächelte, und er lächelte auch.

DIE LÄNGE DES AUGENBLICKS

Er war der Erste in der Garderobe. Und er ließ sich nicht wie sonst auf einen Stuhl fallen, um sich eine Zigarette anzuzünden und vor sich hin zu starren, sondern er war tätig. Ohne sich umzuziehen, suchte er in äußerster tätiger Eile seine Sachen zusammen, stopfte sie in seine Tasche, die Schuhe, die Kleider, die Zigaretten. Er sah niemanden an.

«Tom!«Diedrich stand hinter ihm. Ob er ihm verraten könne, was mit ihm los sei. Als keine Antwort kam, sondern ein verständnisloser, stummer Halbblick, warf Diedrich, wohl aus Versehen, einen Stuhl um, was mit einem scheppernden Krachen seine Worte effektvoll untermalte:»Spinnst du eigentlich komplett?«, sagte er laut.

«Wieso?«, fragte Tom, tatsächlich verständnislos.

«Wieso, wieso??«, schrie Diedrich. Der Bassist und der Schlagzeuger standen in einiger Entfernung, lehnten mit vor dem Körper verschränkten Armen nebeneinander am Garderobentisch wie zwei stumme Ausrufezeichen.

«Wieso, fragst du noch? Du lieferst hier eine grandiose Scheiße ab und fragst noch wieso??«

«Was?«, fragte Tom und hielt in seiner Räumtätigkeit inne.

«Also du scheinst echt komplett durchzudrehen, Tom Holler«, sagte Diedrich, nun etwas leiser, aber nicht weniger eindringlich, bevor seine Stimme wieder falsettartig klang, wie immer, wenn er sich aufregte, was selten geschah, denn er war eigentlich ein ausgeglichener Mensch.

«Also«, sagte er,»wenn du lieber eine Soloshow machen willst, dann sag’s, aber führ dich nie wieder auf der Bühne so auf, wenn du mit uns zusammenspielst. Und sag mir jetzt bitte nicht, du hättest das nicht gemerkt!«Er wisse, dass Tom Holler toll Klavier spielen könne, und er wisse auch, dass Tom Holler Läufe geübt habe, viele Läufe in seinem Leben, und dass Tom Holler komplizierte Harmonieverbindungen kenne, das wisse er auch. Aber Tom Holler sei nicht allein auf der Bühne, und er, Diedrich, lasse sich nicht jedes zweite Solo wegnehmen, denn schließlich gebe es ja auch noch ein paar Absprachen! Oder ob er besoffen gewesen sei, noch besoffener als sonst? Und ob es ihm wenigstens Spaß gemacht habe?

«Ja«, sagte Tom ruhig, mit seiner Plastiktüte und der Umhängetasche unter dem Arm.»Und wenn du’s genau wissen willst, es hat mir einen Riesenspaß gemacht, und ich war zum ersten Mal seit langem überhaupt nicht besoffen! Ich muss jetzt gehen. Lass mich bitte durch.«