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«Du gehst nicht«, sagte Diedrich.

«Doch, ich gehe«, sagte Tom.

«Nein.«

«Doch.«

«Tom!«, sagten gleichzeitig der Bassist und der Schlagzeuger.

«Wenn’s euch nicht passt, wie ich spiele, dann sucht euch einen anderen«, sagte Tom.»Von mir aus sofort, kein Problem.«

Er ging los, streckte seinen Arm aus, um Diedrich wegzudrängen, was nicht nötig war, denn dieser wich von selbst zurück, als hätte er Angst vor einer ansteckenden Krankheit, die bei einer Berührung auf ihn übergehen könnte, nur sein Blick verfolgte ihn, aber er verstand nicht, was Tom, bereits in der Tür, leise hinzufügte:»Also, wenn du schreist, klingst du echt, als hättest du dein Mundstück verschluckt.«

«Was?«, rief Diedrich ihm nach. Tom aber schloss die Tür hinter sich, fest und bestimmt und nicht allzu laut.

Er eilte durch die Flure zum Bühnenausgang. Er verlief sich, öffnete die falschen Türen, über denen schwache Notausgangsleuchten brannten, dahinter Magazine, vollgestapelt mit Kulissen, Kostümen, modrigem Theatergeruch. Endlich fand er die richtige Tür und trat hinaus. Die schmale Seitengasse war dunkel. Niemand zu sehen. Er zündete sich eine Zigarette an und lief um das Gebäude zum Haupteingang. Es fiel ihm ein, dass sie ja nichts vereinbart hatten, nichts Konkretes. Während er auf den Haupteingang zuging, kam ihm das Zeitgefühl abhanden, und er hätte nicht sagen können, wie lange er in der Garderobe für das Zusammenräumen seiner Sachen, für die Unterredung mit Didi benötigt hatte, wie lange er schließlich in den Theatergängen umhergeirrt war. Es erschien ihm, als gehörten die Theaterräume, in denen er gewesen war, einem in sich ruhenden schwarzen Loch an, aus dem er plötzlich in die bewegte Welt zurückgekehrt wäre.

Zu seiner Erleichterung sah er, dass vor dem Haupteingang, auf dem quadratischen und von Lampen erhellten Platz, noch Besucher standen, die in lockeren Grüppchen redeten, rauchten. Mit langen Schritten lief er über den Platz. Auf einmal fürchtete er, sie dennoch nicht zu finden, sie verpasst zu haben. Die ihm nachgehenden, verwunderten Blicke bemerkte er nicht. Eine Frau sprach ihn an, auf Englisch. Ob sie im Internet CDs verkauften, sprach sie, drinnen seien sie ausverkauft gewesen. Er schüttelte den Kopf, lief weiter und fand sie nicht. Jemand redete ihn auf Deutsch an, er sei nämlich, sagte er, Ingenieur und habe in Stuttgart gearbeitet. Ob er Stuttgart kenne. Ja, sagte er, Stuttgart kenne er. Ob er auf sein CD-Booklet ein Autogramm schreiben könne. Ein anderer sagte, dass Renato Carosone der größte Musiker aller Zeiten gewesen sei, ob er das nicht auch finde. Ja, sagte er und ging weiter, das finde er auch. Da war sie. Sie stand an der gegenüberliegenden Seite. Vor einem Schaufenster, vor den Schaufensterpuppen unter dem herabtropfenden Licht einer Laterne. Sie sah ihn an. Hände in den Taschen. Sie standen und lächelten. Er hier, sie dort. Sie waren die beiden Pole, und das, was zwischen ihnen lag, gab es nur, damit sie einander gegenüber ihren Platz im Universum behielten. Der Augenblick dauerte sehr lange. Aber ein Augenblick, so sehr man es auch will, kann nicht ewig gedehnt werden, denn er wird dünner in der Verlängerung und reißt irgendwann ab. Und so war es. Der Augenblick zerriss. Auf einer unsichtbaren Linie, die schon lange auf dem Lavastein dieses Platzes von einem unsichtbaren Stift eingezeichnet gewesen sein mochte, gingen sie langsam aufeinander zu, und je kleiner die räumliche Entfernung zwischen ihnen wurde, desto größer wurde eine andere. Stimmengewirr, Lachen umgab sie auf einmal. Er sah ihr Gesicht, das ihm durch die Dämmerung entgegenkam. Sie hatte sich nicht verändert. Die Jahre, die sie gelebt hat, dachte er auf einmal, all die Jahre, wo sind sie? Nicht in ihrem Gesicht. Voreinander blieben sie stehen. Betty, die in Begrüßungen von Berufs wegen wohl Geübtere, streckte ihre Hand aus, die er ergriff, für einen Augenblick hielt, bevor er sie plötzlich zu sich heranriss, ihren Körper, und sie umarmte. Sie hielten sich aneinander fest, er spürte das Pochen ihres Herzens und seines. Dann ließen sie sich los.

«Hallo«, sagte Tom, der einen Schritt nach hinten getreten war. Mit einer Bewegung, die einem Schlagen glich, streifte er sich das Haar aus der Stirn.

«Hallo«, sagte sie.

Das sie umgebende Stimmengewirr hatte sich gelichtet. Ein Paar ging nah an ihnen vorüber und verschwand im Dunkel der Stadt.

Betty lächelte. Sie holte dieses Lächeln aus ihrer Manteltasche und reichte es ihm, wie man jemandem, der geweint hat, ein Taschentuch reicht. Alles halb so schlimm, schien sie zu sagen. Er lächelte auch.

«Sollen wir hier stehen bleiben«, sagte sie,»oder noch was trinken gehen?«

Sie gingen zu Gambrinus. Weil es nah sei, sagte sie, direkt an der Piazza Trieste e Trento gelegen. Sie redete fröhlich, viele fröhlich klingende Worte, während sie mit einigem Abstand die Via Toledo entlangschlenderten, wodurch sie wohl eher plaudernden Bekannten glichen, die sich zufällig in der Stadt getroffen hatten. Sie sagte, sonst gehe sie nie zu Gambrinus, eigentlich ein Spießerladen, aber ganz witzig, irgendwie. Das sei eben auch Neapel. Ob er schon etwas gesehen habe. Nicht viel, antwortete er. Das Meer vom Hotelzimmer und von einer Straßenkreuzung aus. Ein riesiges Kastell im Meer. Den Bahnhof, sagte er und betrachtete ihrer beider Schatten, die sich trotz des Abstands näher schienen als die Personen, die sie erzeugten.

Als sie durch die hohe Tür und den schweren dunkelroten Windvorhang in das Café traten, konnte er nicht glauben, dass sie ihn hierher, in diesen menschenvollen, sie wie eine Domkuppel überwölbenden Saal gebracht hatte, in dem sie klein und verloren dastanden, denn alle Plätze bis in die hinterste Dämmerung der langen Raumflucht waren besetzt. Die Tische an den Wänden schienen einen Schritt von ihnen zurückzutreten, alles schien gleichzeitig den Kopf zu wenden, um sie zu betrachten. Bring mich ans Meer, wollte er sagen, ins Dunkle, aber es erhob sich ein Paar von einem der Fensterplätze, und sie setzten sich. Zwischen ihnen lag die winzige Fläche eines Cafétischchens. Und ein Schweigen, das wie eine Tischdecke darübergebreitet war. Jenseits davon ihr Gesicht. Er hätte nur seine Hand ausstrecken müssen, um es zu berühren, aber es schien ihm in diesem Augenblick weiter entfernt zu sein als je, unwirklicher als seine Erinnerung von ihr.

Als der Kellner kam und mit einer einzigen abgerundeten Bewegung seiner Hand die Tischdecke herabzog und eine neue auflegte, wusste er nicht, was er bestellen sollte. Er wusste gar nichts. Was hatten sie früher zusammen getrunken, Bier, fiel ihm ein, viel Bier, aber auch Wein, erinnerte er sich. Betty bestellte einen doppelten Averna. Tom, der gar nichts wusste, am allerwenigsten, ob er Alkohol trinken sollte, und wenn ja, welchen, und wenn nein, welchen nicht, und der nicht wusste, was man außer Alkohol noch trinken konnte auf der Welt, bestellte einen doppelten Whiskey. Bettys Hände lagen auf dem Tischtuch. Tom betrachtete sie und verglich sie in Gedanken mit den Händen in seiner Erinnerung. Er legte alle vier Bettyhände nebeneinander und betrachtete und verglich sie. Eine Hand trug einen Ehering.

Sie schwiegen. Er hätte jetzt mit ihr sprechen können, aber keines der möglichen Worte erschien ihm angemessen für das, was er empfand. Er wollte sie nur ansehen und konnte es doch nicht. Und was gab es auch zu sagen? Er war hier, und Betty war dort, schaute aus einem Abstand von zehn Jahren zu ihm herüber. Das war eigentlich alles.

Mit Bewegungen, die auf den Millimeter genau zwei durch unsichtbare Kreuzchen markierte Punkte auf dem Tisch zu treffen schienen, stellte der Kellner die Gläser ab. Als würden, dachte Tom, die Gläser magnetisch von diesen Punkten angezogen, als könnte man sie jetzt nicht mehr verrücken. Eine Schale mit Erdnüssen, Salzgebäck im Mittelpunkt des Tisches. Auch er fühlte sich, als könnte man ihn nicht mehr verrücken, er hier und Betty dort bis in Ewigkeit. Durch den hohen Saal entfernte sich der Kellner wie ein Eiskunstläufer.