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«Salute«, sagte Betty aber und hob ihr Glas.

«Salute«, sagte Tom.

Nachdem er getrunken hatte, drehte er sein Glas zwischen Daumen und Zeigefinger auf dem Tisch. Er bemerkte, dass auch sie ihr Glas zwischen Daumen und Zeigefinger drehte, dass auch sie es bemerkte, wie sie beide ihr Glas drehten. Sie lächelten.

«Ich«, sagten beide gleichzeitig und verstummten. Betty lachte kurz. Bevor er wieder etwas sagen konnte aber, ergriff sie das Wort und redete schnell, während er überlegte, ob sie auch früher schon so schnell geredet hatte, und sich fragte, ob es ihr Beruf mit sich brachte, dieses schnelle, effektive Reden, oder ob es von ihrer neuen italienischen Sprache auf ihr Deutsch abfärbte oder ob sie sich einfach vor der Stille fürchtete oder davor, dass er etwas sagen könnte. Er hatte Mühe, ihr zu folgen, während sie schnell über das Konzert redete, über das Programm, das sie interessant fand, soweit er es verstand, all die alten Schlager und Volkslieder auszugraben und etwas anderes daraus zu machen erschien ihr interessant, hierzulande, sagte sie, kenne die Lieder schließlich jeder, jedes Kind könne sie mitpfeifen, mehr oder weniger jeder Punk auf der Straße singe sie zur Gitarre, denn die volksmusikalische Tradition, zumal im Süden, sei in Italien ja doch eine ganz andere, eine unbeschädigtere als in Deutschland. Ob sie das schon einmal mit deutschen Liedern probiert hätten, fragte sie.

«Nein«, sagte er.

Es erschien ihr interessant, das auch einmal mit deutschen Liedern zu probieren.

«Wie hat es dir gefallen?«, fragte er, bevor sie wieder so schnell und professionell an ihm vorbeireden konnte.

Sie wandte den Blick, schien zu überlegen und sah auf die Fensterscheibe, in der eine Kerzenflamme in ihrem Kopf brannte. Was wohl darin vorging, fragte er sich, außer dem Brennen der Kerze, und sie erschien ihm fremder, verschlossener, geheimnisvoller als alle Frauen, die er jemals getroffen hatte. Vor der Scheibe kreuzten zwei Omnibusse, schoben sich gleichsam ineinander, wurden eins für den Moment und fuhren in verschiedene Richtungen davon.

«Gut«, sagte Betty, aber er wusste nicht, was sie meinte, schüttelte fragend den Kopf.

«Ihr …«, sagte sie,»du hast toll gespielt«, sagte sie nun langsamer in Richtung Fenster.»Wirklich. Aber anders, anders als früher. Zu viel für meinen Geschmack. «Sie zögerte. Sie hätten, so habe sie gedacht, nicht eigentlich miteinander gespielt, sondern gegeneinander, aber natürlich könne sie sich täuschen, denn sie sei ja nicht mehr direkt auf dem laufenden, was Musik betreffe. Sie lachte.

Er blickte sie an. Ihr Mund, ihr Lachen, übertönt plötzlich von einem in seinen Ohren sausenden Geräusch, welches erst als er den Blick auf den Tisch senkte, langsam verstummte, worauf die Klänge der Bar, das Ächzen der Espressomaschine, das leise Stimmengewirr zurückkehrten. Er trank einen großen Schluck Whiskey. Er hatte sich lächerlich gemacht, dachte er. Auf offener Bühne hast du dich komplett lächerlich gemacht. Sie redete. Du hast dich aufgeführt auf der Bühne wie ein Kasper und dich lächerlich gemacht. Zum ersten Mal seit langem fühlst du wieder etwas beim Spielen, und sofort machst du Kasper dich lächerlich, dachte er, während er auf ihren Mund starrte, der redete. Ausgerechnet vor ihr.

Die Kellner glitten auf ihren Bahnen durch den hohen Raum. Über ihnen, am Firmament, klirrten die Kristallleuchter. Sirrten die Sterne. Betty redete. Und er betrachtete sie staunend, aber wie ihr Reden, so ergab auch ihr Äußeres keinen Zusammenhang, bildete sich keine erkennbare Figur aus Augen, Stirn, Mund, obgleich sie genauso aussah wie früher.

Betty schlug ein Bein über und sagte, sie finde es schön, dass er noch immer mit Ulrich Musik mache, mit Didi. Überhaupt, sagte sie, könne man ihm ja wirklich gratulieren zu dieser Musikkarriere, die die wenigsten schafften. Sie redete wieder schnell und perlend, und plötzlich erinnerte er sich, dass sie auch früher schon einmal in dieser Weise zu ihm gesprochen hatte, als sie zu zweit mit dem Auto aus Samedan hinausgefahren waren, bevor sie für immer verstummt war.

«Und du?«, fragte er mit trockener Stimme, obgleich er nicht wusste, ob es ein geeignetes Thema war.»Singst du gar nicht mehr?«

«Nein«, sagte sie. Sie singe nicht. Sie arbeite ja im Krankenhaus, und da bleibe nicht mehr viel Zeit übrig. Aber sie mache ihr Spaß, die Arbeit im Krankenhaus, sie erscheine ihr als eine wichtige Arbeit, als etwas Sinnvolles, etwas Elementares, sagte sie, und sie fülle sie eigentlich aus.

«Du bis Anästhesistin geworden, nicht?«, sagte er.

«Ja«, sagte sie.

«Du bist also doch was Richtiges geworden.«

«Ja«, sagte Betty. Sie wechselte die Stellung ihrer Beine.»Meine Eltern hatten wohl recht«, sagte sie und lachte. Es war ein Lachen, das in ein Räuspern überging. Ob er gar nicht mehr rauche, fragte sie.

«Doch«, sagte er. Aber man dürfe ja nicht.

«Stimmt. «Sie, wich seinem Blick aus und sah hinab auf den Tisch. Die Gebäckschüssel zwischen ihnen stand noch immer unberührt. Ihre Blicke trafen auf ihr zusammen, lagen direkt nebeneinander auf einem Kräcker. Entweder ich esse jetzt alles auf, oder ich esse gar nichts, dachte Tom. Betty strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr, die schon hinter dem Ohr war. Niemand, sagte sie und blickte allgemein vor sich hin, aber wirklich niemand habe geglaubt, dass sich die Italiener das Rauchen abgewöhnen ließen. Man habe aber immer noch genauso viele Herzinfarkte, nach wie vor, sagte sie und lachte. Und Lungenkrebs und Mundbodenkrebs auch, könne man sagen. Erst gestern habe man einen Patienten operiert, Nichtraucher übrigens, einen jungen Mann, neununddreißig Jahre alt, der an einer aggressiven Form von Lungenkrebs leide, Heilungschancen marginal in diesem Stadium, Theaterschauspieler übrigens, der ihr ein paar Tage vor der Operation erzählt habe, er sei zum ersten Mal glücklich gewesen, nämlich gerade vor einigen Wochen habe er sich explizit gedacht, zum allerersten Mal in seinem Leben wirklich glücklich zu sein, das Leben zu meistern, da man ihm eine große, wahrscheinlich seinen Durchbruch bedeutende Rolle beim Film angeboten habe, und außerdem werde er, was er sich sehr gewünscht habe, bald Vater, aber als gönne Gott ihm dieses Glück nicht, habe er einige Tage nach dem positiven Schwangerschaftstest die Krebsdiagnose bekommen, sagte er, und so wie es aussehe, werde er nicht einmal mehr sein Kind kennenlernen, sagte sie, und in solchen Fällen wisse man oft nicht, was zu sagen sei. Oder jene Familie, die ihre Mutter durch einen komplett überflüssigen Autounfall zufällig verloren habe. Genauso zufällig wie das Leben sei eben auch der Tod, denke sie manchmal. Es sei seltsam, fuhr sie fort, aber gerade da, wo man so viel mit dem Tod zu tun habe, drehe es sich ja auch immer um sein Gegenteil, nämlich ums Leben. Sie blickte ins Licht eines Kronleuchters. Gerade hier, sagte sie, gerade in Neapel.

Er hätte jetzt fragen sollen, warum, warum gerade in Neapel. Aber er konnte es nicht. Zwar hörte er, was sie erzählte, aber es war ihm unmöglich, es aufzunehmen, es zu fühlen, denn er fühlte da hindurch etwas anderes, die Jahre zwischen ihnen, die sie mit dem vielen Reden überdeckte, die Einsamkeitsjahre, die Schlafjahre und die Jahre, dachte er, die unser Leben waren, unser eigentliches Leben, bevor wir eingeschlafen sind.

«O Gott, Betty«, sagte er auf einmal. Er ergriff ihre Hand. Er wollte noch etwas anderes sagen, aber es waren zu viele Worte in ihm, und er konnte sich für keines entscheiden, also schwieg er. Er sah sie lange an, hielt ihre Augen lange mit seinem Blick fest, als gäbe es nichts als diese Augen, als balle sich die Welt in diesen Augen zusammen. Erst als sie ihre Hand unter der seinen hervorzog, bemerkte er, wie fest er auch sie gehalten hatte. Er ließ sie los.

Wo sie eigentlich als Nächstes spielten, fragte sie und räusperte sich leise, vermied den Anblick seiner Augen, indem sie zu seinem rechten Wangenknochen sprach.