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Er wusste es nicht. Er hob die Schultern und dachte, dass er es nicht wusste. Die ganze Zeit über hatte er nur bis Neapel geplant. Neapel war seine Horizontlinie gewesen, und auf einmal musste er einsehen, dass es hinter der Horizontlinie weitergeht. Das Leben ist keine Scheibe. Das Leben ist eine Kugel.

«Palermo«, sagte er leise.»Ich glaube, wir spielen in Palermo.«

«Toll«, sagte sie.»Palermo ist toll.«

«Ja«, sagte er.

«Wann?«, sagte sie und begann, irgendetwas in ihrer Handtasche umzuräumen.

«Was wann?«

«Wann ihr in Palermo seid?«, sagte sie und räumte etwas Wichtiges in ihrer Handtasche um.

«Ich glaube, übermorgen«, sagte er, aber es stimmte nicht, er glaubte es nicht.

Sie legte ihren Geldbeutel auf den Tisch. Sie müsse jetzt gehen, sagte sie. Wenn er wolle, zeige sie ihm morgen die Stadt, sie habe frei.

«Nein«, sagte er,»doch.«

«Was jetzt?«, sagte sie und lächelte, und dieses Lächeln, fand er, war wie ein dünner Sonnenstrahl, der durch eine Wolke bricht.

«Zeig mir die Stadt«, sagte er.»Zeig mir alles.«

Eilig stand sie auf, und eilig sagte sie:»Um elf Uhr hier. «Sie drehte sich um, glitt davon auf dem wie eine Eisfläche schimmernden Marmorfußboden und bezahlte an der Bar, was er, der ebenfalls aufgesprungen war, geschehen ließ, weil er sich nicht mehr bewegen konnte. Weil sein Körper und auch seine Gedanken zu langsam waren und nicht begriffen, was hier geschah. Dass er sie wiedergetroffen hatte und jetzt einfach gehen ließ. Dass er sie in diesem Moment durch den Samtvorhang der Bar Gambrinus tauchen, die Tür öffnen und hinaus auf die Piazza treten, in die Dämmerung der Stadt und am Fenster vorbei laufen sah, an diesem Fensterplatz, auf dem sie in seiner Vorstellung immer noch bei ihm saß und an dem sie in einer ungeheuren Gleichzeitigkeit aller Dinge vorüberlief, indem sie noch einmal hereinblickte zu ihm, durch eine von Kerzenschein erleuchtete Glasscheibe von ihm getrennt, und vorbeiging und weg war.

An der Bar trank er einen doppelten Whiskey. Dann noch einen. Dann ging er hinaus in die Stadt. Er überquerte die Piazza Trieste e Trento, kam in die offene beleuchtete Weite der Piazza Plebiscito und lief durch die Via Chiaia hinunter Richtung Hotel. An der Ampel des Lungomare hielt er nicht an, sondern teilte den Strom der Autos. Ein Jogger überrannte ihn fast. Er kletterte über die Kaimauer, stieg hinab und lief über die großen Bruchsteine zum Meer. Wo die Wellen an die Steine schlugen, dort setzte er sich hin und betrachtete die große, vor ihm daliegende Dunkelheit, die mit der Dunkelheit des Himmels zu verschwimmen schien. Es war nicht zu begreifen, das dachte er. Nichts ist zu begreifen. Die Erinnerungen, die materielosen, im Kopf entstehenden Traumbilder und Fiktionen erschienen ihm plötzlich greifbarer und gehaltvoller als die Materie selbst. Was sind wir aber anderes als Materie, dachte er. Materie mit Gefühl. Mit einem Gefühl, dem jedoch nicht zu trauen ist. Denn was war dieses Gefühl, dieses sein großartiges Musikgefühl, das er beim Konzert gehabt hatte, wert? Was ist ein Gefühl wert, wenn es sich als falsch, als schlecht, als übertrieben, als lächerlich herausstellt? Ist es dann noch ein Gefühl oder nur ein Irrtum?

Er warf eine glühende Zigarettenkippe ins Meer. Er dachte an Betty, an die Betty, die er heute getroffen hatte und die jetzt fremd und neu zwischen den übrigen Bettyfiguren in der Vitrine seiner Erinnerung herumstand. Wie schnell sie sich füllte, die Vitrine der Erinnerung. Wie schnell die Gegenstände aus der Zukunft in die Erinnerung wandern, und wenn sie voll ist, dachte er, stirbt man.

HOTEL MARINA 2

Der Morgen war schon lang, als sie auf der Piazza Trieste e Trento aufeinander zugingen, Tom aus der Richtung des Ufers, Betty von der Via Toledo kommend, fünf Minuten vor der Zeit, obwohl beide einen kleinen Umweg um die Piazza gemacht, das in der Zukunft liegende Zusammentreffen durch diesen kleinen Umweg um den Ort ihres Treffens gewissermaßen eingekreist hatten, wie man mit einem Stift eine besonders wichtige oder auch fragwürdige Passage in einem Text einkreist, und sie hatten sich beide gleichzeitig in der Menschenmenge entdeckt, so wie sie auch genau gleichzeitig an der Piazza Trieste e Trento angekommen waren. Sie gingen aufeinander zu, verloren sich aber über die Dauer des Aufeinanderzugehens manchmal aus den Augen, da ihnen Passanten in den Weg kamen, tauchten dann wieder hinter den sich ständig verschiebenden Fluchten der bewegten Menschenmenge plötzlich auf und blieben gleichzeitig stehen. Eine Distanz von etwa fünf Metern erstreckte sich zwischen ihnen und wurde von Passanten, die nicht wussten, dass hier zwei Menschen über eine Entfernung von fünf Metern und zehn Jahren zusammengehörten, öfter gekreuzt und durchschnitten. Hinten, auf der hellen Weite der Piazza Plebiscito, bewegten sich mehrere Hochzeitspaare. Die Bräute schwebten in ihren riesigen dreieckigen Kleidern über den weißen Platz. Darüber die strenge Bläue des Himmels.

«Du bist zu früh«, sagte Betty und nahm ihre Sonnenbrille ab.

«Du auch«, sagte Tom.

«Hast du schon Kaffee getrunken?«

Als sie nebeneinander über den Platz gingen, über die helle Fläche, die wie ein ovaler Spiegel das Sonnenlicht zu sammeln schien, hatte Tom plötzlich das Gefühl, ins Offene zu gehen, in eine große und leichte Klarheit, wie sie nach einem langen Winter morgens über dem Land ist. Auf einem hohen Balkon zu stehen, der sich plötzlich als Segelboot herausstellt und ablegt. Es erschien ihm plötzlich normal und folgerichtig, dass sie nebeneinander über diesen Platz gingen. Und es erschien ihm, ohne dass er es sich bewusst gemacht hätte, der vor ihm liegende Tag nicht als eine lineare Strecke, nicht wie eine auf etwas zuführende und dann endende Straße, sondern als ein in sich bewegtes, abgeschlossenes Oval.

«Was machen denn die ganzen Brautpaare hier?«, fragte Tom, als sie an der langgestreckten rostroten Fassade des Palazzo Reale vorübergingen.

«Sie lassen sich fotografieren«, sagte Betty.

«Und du? Hast du dich auch fotografieren lassen?«, fragte er, ohne sie anzusehen.

Sie lachte.»Nein.«

Sie gingen durch das Weiß der Brautpaare, vorbei an den großen Parabolspiegeln der Fotografen, die die ohnehin gebündelte Helligkeit des Platzes noch mehr verdichteten, in Richtung der Meerseite, von wo aus der Hafen, der Halbmond des Golfes und der Vesuv zu sehen waren. In einer kleinen Bar tranken sie Kaffee, an den Tresen gelehnt. In einem Fernseher kamen die Nachrichten, aber es war Tom, als wären das Nachrichten von einem anderen Planeten. Es war dämmrig in der Bar. Durch die offen stehende Tür entrollte sich das Licht am Fußboden zu einem langen Rechteck. Sie rührten mit ihren Löffeln in ihren Tässchen. Das Zischen der Kaffeemaschine und das Klappern des Barmanns füllten den Raum. Sie mussten nicht reden, dieses Nichtreden war jetzt nicht eine Abwesenheit von etwas, sondern die Anwesenheit von etwas anderem. Sie beide inmitten der Geschäftigkeit der von silbrigen Geräuschen, Stimmen, Maschinengezisch erfüllten Bar, das war wie ein Sonntag an einem Montag.

Als ihr Nebeneinanderstehen immer unmöglicher geworden war, denn in einer neapolitanischen Bar wird nicht länger als eine Espressolänge am Tresen, schon gar nicht schweigend, gestanden, sagte Betty:»Und jetzt? Was möchtest du machen?«

Tom sah sie an wie jemanden, den man gerade geheiratet hat, und mit seinem Blick hob er den Schleier von ihrem Gesicht.

«Ich müsste eigentlich mal ein paar Klamotten einkaufen«, sagte er langsam, während die Augen etwas anderes meinten.»Ich habe gar nichts dabei.«

Sie lächelte, so als hätte sie nichts anderes erwartet. Sie gingen hinaus in die Helligkeit, zurück zur Via Toledo, die dem Platz wie ein Fluss entsprang und sich dunkler und von Passanten durchflossen in das dichte Massiv der Stadt grub. Die Ufer rechts und links der verkehrsberuhigten Via Toledo, die weiter oben, gleich hinter dem hohen Eingang zur Galleria Umberto, in die dicht befahrene Via Roma mündete, waren gesäumt von Geschäften. Nicht das Sonnenlicht schien diese vergleichsweise schmale Straße zu erleuchten, sondern die Helligkeit der Boutiquen. Als sie ein Herrenmodegeschäft betraten, erschien es ihm auf einmal absurd, jetzt einkaufen zu gehen, mit Betty, aber die hatte da schon auf Italienisch mit einem Verkäufer gesprochen, der ihn mit den Augen sofort fachgerecht überprüfte. Aus einer Schublade zog er ein Maßband, schlang es mit einer raschen Bewegung um Toms Hals. Betty stand mit verschränkten Armen und neigte den Kopf und spitzte den Mund und sagte ja oder nein zu den Hemden, die der mit einem wie eine Haut ihn faltenlos umschließenden Anzug bekleidete Verkäufer aus einem hohen Wandregal herauszog. Tom dagegen stand da, als wäre er nicht eigentlich beteiligt, als hätte er nur seinen Körper hier abgeliefert und warte draußen. In Wahrheit aber wartete er nicht. Er durchlebte jeden dieser Momente einzeln, ohne sie durch ein Warten zu einer Zeitstrecke zu verbinden, weil er es genoss, in den Augen des Verkäufers, der sie Signora und Signore nannte, mit Betty verheiratet, ihr in Kleiderbelangen vollkommen überantwortet zu sein.