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Mit einem Stapel Hosen und einigen Hemden, die der Verkäufer auf Bettys Geheiß aus ihren Plastikhüllen und von Stecknadeln befreit hatte, ging er in die Umkleidekabine. Und Betty folgte ihm, kehrte dann aber dicht bei den Umkleidekabinen um und ließ ihre Hand scheinbar interessiert über Kleider und Regale gleiten. Der Verkäufer lächelte ihr zu. Sie lächelte zurück und überlegte, ob er sie erkannte, denn auch mit Alfredo, der sich jedes Mal in diesen Boutiquen aufregte über die Preise, die Arbeitsbedingungen in Fernost und den in diesen, wie er sagte, Religionsstätten des Kapitalismus zelebrierten Konsum, der in den sogenannten kleinen Boutiquen, in den, so nannte er es, Kapellen der Konsumreligion, genauso angebetet werde wie in den großen Kathedralen der Shoppingmalls, auch mit ihm war sie hier schon einkaufen gewesen. Beim letzten Mal hatte sie zu ihm gesagt, dann müsse er sich eben seine Kleider selber stricken, woraufhin er gesagt hatte, das werde er auch tun, worauf er aber nicht gestrickt hatte.

Langsam bewegte sie sich durch die Fluchten der Kleiderständer zu den Umkleidekabinen zurück. Er sei ein freier denkender Mensch, und lieber stricke er, hatte er gesagt, als sich dem Dogma des Konsums zu beugen. Sie blieb stehen und versenkte ihren Blick in den Stoff eines Jacketts, der zu einer endlosen blauen Fläche zu zerfließen schien.

«Betty?«

In Strümpfen stand Tom unter dem Bogengang, der zu den Umkleidekabinen im hinteren Teil des länglichen Raums führte. Die Hände zu Fäusten geschlossen und weit vom Körper abgespreizt, damit sie seinen gesamten Umriss besser sehen konnte.

«Und?«

«Was meinst du?«, fragte sie.

«Ja«, sagte er.»Passt.«

«Du siehst dich ja gar nicht«, sagte sie und lächelte. Sein Bild wurde in mehreren, tief in den Raum hineinführenden Spiegelfluchten vervielfacht, aber er sah nicht hin.

«Nein?«, sagte er und lächelte.»Es reicht doch, wenn du mich siehst.«

Der etwas abseits stehende Verkäufer strebte nun, indem er im Vorbeigehen mit einer geschwungenen Handbewegung einen Cordanzug von einem der Ständer nahm, herüber, denn zum Anzug nämlich passe wiederum ein roséfarbenes Hemd und zu diesem eine Jacke. Rasch schloss er hinter Tom und dem Cordanzug den Vorhang und begab sich zu einem Regal, wo er Pullover zusammenlegte. Es geschah dann über eine längere Zeit nichts. Von ihnen unbemerkt, schritt draußen die Sonne am strengblauen Himmel ihre Bahn ab. Betty indessen betrachtete von hinten eine Kleiderpuppe im Schaufenster, deren winzigkariertes Sakko im Rücken mit Nadeln zusammengesteckt war, damit es von vorn besser aussah. Sie spürte den Impuls, die Schaufensterpuppe umzudrehen, damit jeder den Nadelbetrug sehen könnte, sie gleichzeitig zu trösten, die liebe Puppe, ihr die Hand auf die glatte Wange zu legen, der lieben, von allen betrachteten, aber niemals gesehenen, der einsamen Kleiderpuppe. Natürlich tat sie nichts dergleichen. Sie blieb stehen und wartete und fragte sich, was sie hier machte. Was hatte sie hier zu suchen? Dort war die Tür, hinter der ihre Stadt lag. Sie hätte gehen können. Aber alles erschien ihr plötzlich selbstverständlich und leicht. Sie beide waren wie zwei einander fremde Kinder, die in einer selbstverständlichen, wortlosen Übereinkunft miteinander Verkleiden spielten. Nun meinte sie nicht mehr, wie am Vorabend, gegen etwas anreden zu müssen, eines ergab sich jetzt aus dem anderen. Sie konnte sich der Zeit überlassen, die sie, ganz gleich, was geschehen mochte, weitertragen würde.

Als Tom ihren Namen rief, war es Betty, als öffnete jemand ein Fenster und ein Windstoß führe in ein stilles abgedunkeltes Zimmer. Sie betrachtete ihn durch den Spalt im Vorhang. Er trug den Cordanzug und darunter das roséfarbene Hemd. Es sah absurd aus. Körperlich passend, auch ohne Nadeln im Rücken, aber absurd. Sie ging einen Schritt auf ihn zu, streckte die Hand aus, um seinen Kragen zu richten, und ließ diese Hand dann an seinem Hals, fühlte das Pulsieren einer Ader. Es war ganz still. Sie wusste nicht, warum, aber sie dachte plötzlich an den verschneiten Garten der Hermanns’, an ihre Schneeballschlacht, sein Gesicht über ihr inmitten der wirbelnden Flocken. Als der Verkäufer mit seiner Frage die den Raum wie dichter Schneefall erfüllende Lautlosigkeit durchschnitt, zog sie ihre Hand zurück. Der Anzug mache schlank, sagte der Verkäufer, nicht dass der Signore das nötig habe, aber trotzdem mache er schlank, sagte er zu Betty, die sofort mehrmals nickte, und der Signore behielt den Anzug gleich an, bekam vom Verkäufer die Etiketten herausgeschnitten.

Als sie aus dem Laden auf die Straße hinaustraten, hatte Betty ein Gefühl der Freiheit, eine Ferienempfindung, als setze sie ihren Fuß zum ersten Mal in eine fremde Stadt. Wieder gingen sie über den muschelförmigen Platz, der ihr jetzt fremd erschien, geheimnisvoll, als sähe sie ihn durch Toms Augen. Ob er nicht die Tüten im Hotel abstellen wolle, fragte sie ihn. Ja. Sie liefen selbstverständlich nebeneinanderher. Hinter den Gebäuden waren Wolkenschwaden aufgestiegen wie Rauch, die das strenge Himmelsblau lockerten. Über dem Meer hingegen war der Himmel geweißt von gazeartigen Schleiern. Das Licht gemildert. Trotzdem setzte Betty ihre Sonnenbrille auf und verschwand halb dahinter. Tom hätte ihre Hand, die die seine fast berührte, ergreifen können, aber es erschien ihm gar nicht nötig, sie gehörten, dachte er, auch so zusammen.

Betty lachte plötzlich. Sie habe ja Angst gehabt, sagte sie, dass er den ganzen Laden leer kaufe. Diese Verkäufer, sie kämen ihr immer vor wie ein einziger Verkäufer, der überall, in jedem dieser Geschäfte sei, tausendmal vervielfacht. Sie aber sei immer so schwerfällig in diesen Geschäften. Wo er überhaupt wohne, in welchem Hotel, und ob er überhaupt den Weg finde?

«Der Anzug geht gar nicht, oder?«, sagte Tom und blieb stehen.

«Nein«, sagte sie und schüttelte lachend den Kopf,»überhaupt nicht. Und das Hemd auch nicht«, sagte sie.

«Aha«, sagte er.»Dafür habe ich dich ja mitgenommen, damit du mich berätst.«

Sie lachte. Aber das Lachen verschwand langsam von ihrem Gesicht, als Tom auf das Hotel deutete. Wie ein Poster, das sich langsam, Ecke für Ecke, von der Wand löst und dann fällt, so fiel das Lachen von ihrem Gesicht, als sie vor dem hohen Eingangsportal des Hotels Marina stehen blieb.

«Was ist?«, fragte Tom.

«Ich warte hier unten«, sagte sie. Ihr Gesicht hatte sich etwas in die Breite gezogen, zweidimensional und weiß wirkte es, papierartig.

Er wolle sich aber oben noch umziehen, sagte er. So könne er doch nicht durch die Stadt. Die Drehtür des Hotels war leer und hell erleuchtet. Betty sah hinein, bewegte sich aber nicht. Tom fürchtete, Diedrich oder einer der anderen Kollegen, denen er beim Frühstück erfolgreich aus dem Weg gegangen war, könnten herauskommen, also nahm er Betty bei der Hand und zog sie in die rotierende Tür, jetzt aber hielt sie seine Hand fest und zog ihn weiter, eine Runde weiter, und lachend kreisten sie, Hand in Hand, in der Drehtür über mehrere Runden, lachend wie Kinder, bis er sie endlich ins Innere der Halle brachte. Er ließ ihre Hand los, ließ Betty in der Mitte der Halle stehen, während er, um den Schlüssel zu holen, zur Rezeption ging. Als er sich wieder zu ihr umwandte, fürchtete er, sie könnte verschwunden sein, und das Gefühl schien viel länger zu dauern als das Sichumwenden selbst, so als käme es aus einer anderen Dimension, einer, die langsameren Zeitgesetzen unterworfen war. Er wandte sich um und dachte, sie ist weg. Während er dies dachte, sie ist weg, in der Drehbewegung, die ihm unendlich verlangsamt erschien, schloss er die Augen, presste die Lider aufeinander, vielleicht um den Moment der Ungewissheit, der Hoffnung weiter auszudehnen.