Sie war noch da. Sie stand in der Leere der Halle und blickte ihn an mit den riesigen schwarzen Facettenaugen ihrer Sonnenbrille. Und während sie Tom durch die Halle auf sich zukommen sah, schien sich ihre Wahrnehmung tatsächlich zu verändern, ihr Blickwinkel vergrößerte sich facettenaugenhaft, so dass sie fast vollkommen alles zu überblicken meinte, diese Hotelhalle heute, diese Hotelhalle vor einigen Tagen, und Tom nichts war als ein winziges Figürchen auf dieser weiten, durch die Tage reichenden Ebene, in geringerer Auflösung als sonst, in blasseren Farben. Nebeneinander stiegen sie die teppichbespannte Treppe hinauf. Die neapolitanischen Sänger sahen blass und verschwommen von den Wänden auf sie herab, erkannten Betty aber sofort wieder und lächelten ihr zu. Sie überlegte, ob Tom wusste, dass dies italienische Sänger waren. Sie wollte es ihm sagen, aber es ging gerade nicht.
«Renato Carosone«, sagte Tom und blieb vor Fred Buscaglione stehen.
«Ja«, sagte Betty.
Wenigstens nicht dasselbe Zimmer, dachte sie, als er die Tür aufschloss. Das Zimmer war geräumig und voll von Licht und Straßenrauschen, und durch das Fenster fiel das Bild des blauen Himmels herein. Die Vorhänge aufgezogen. Das Bett gemacht. Eng und faltenfrei umschloss das Laken das Bett. Die Möbel standen scharfkantig und aufgeräumt in der Helle des Raums, und obwohl die Luft unbewegt war, schien hier ein frischer kräftiger Wind zu wehen.
«Setz dich.«»Ich warte draußen«, sagten sie gleichzeitig.
Ein frischer Wind wehte. Sie strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr, und da berührte er kurz ihre Hand, als wolle er sehen, ob sie echt sei. Auf ihrem Gesicht wechselten die Stimmungen wie Licht und Wolken. Er steckte seine Hand tief in die Hosentasche des neuen Anzugs und stand vor ihr da und betrachtete den Teppichboden unter ihren Füßen. Sie stand mit dem Rücken zur Tür.
«Ich zieh mich um«, sagte er.»Setz dich.«
Sie setzte sich nicht, als er ins Bad ging, sondern blieb stehen und blickte von der Tür aus in die aufgeräumte Helle des Zimmers. Dann setzte sie sich doch auf den Rand des Bettes und betrachtete die Tür. Zwischen Fenster und Tür lag ein länglicher Bettvorleger aus Licht. Sie hörte, wie er vom Bad in das Zimmer trat und dann stehen blieb. Sie wusste, dass er die Hände in die Hosentaschen grub und von hinten ihren Umriss betrachtete, während sie weiterhin die Tür anstarrte. Sein Blick lag schwer und warm in ihrem Nacken. Sie fasste mit der Hand dorthin und meinte, seinen Blick in die Handfläche schließen zu können, wie etwas Stoffliches, einen warmen, von der Sonne aufgeheizten Kieselstein, den man in die Tasche steckte. Sie stand auf und drehte sich um. Er trug nun wieder seine alten Kleider. Die ausgebeulte Cordhose und das schwarze Hemd mit hochgeschlagenen Ärmeln. Er hob die Schultern.
«Besser«, sagte sie.»Gehen wir?«
Er nickte, blieb aber stehen.
«Was ist?«, fragte er.
«Nichts«, sagte sie.»Ich weiß auch nicht.«
Er ging um das Bett herum auf sie zu.
«Vielleicht hätte ich dich nicht anrufen sollen.«
«Doch«, sagte er.»Gehen wir«, sagte er. Aber er blieb dicht vor ihr stehen. Er nahm ihre Hände, die neben ihren Hüften herabhingen, und lehnte seine Stirn an ihre. Niemand hätte sagen können, wer damit angefangen hatte, mit dem Küssen, das ein Suchen war. Sie küssten sich das Gesicht, zuerst die Wangen, dann die Lippen. Es war, als suchten sie einander zwischen all den Jahren, die sie ringförmig umschlossen, hindurch, und mit den Händen betasteten sie die Umrisse ihrer Gesichter, und mit den Lippen, den Zähnen, die aneinanderschlugen, während sie versuchten, sich gegenseitig auszuziehen, nicht nur die Kleider, sondern auch die Haut.
Seine Hand war in ihrem Haar, zog ihr den Kopf zurück, die andere lag auf ihrem nach hinten gebogenen Hals, den er küsste, als sie an eine Kommode stießen, auf die er sie hob. Sie umschloss ihn mit den Beinen. Hielt ihn aber mit ausgestreckten Armen auf Abstand, drückte die Finger in seine Kehle, zog ihn dann an sich und umklammerte ihn, riss ihm das Hemd aus dem Gürtel. Sie lachte, als er ihre Hose aufknöpfte und es ihm nicht gelang, sie über ihren Hintern, weil sie auf diesem saß, hinabzuziehen. Er riss daran, riss ihr Hose und Slip herunter, küsste sie zwischen den Beinen, er stöhnte, atmete zwischen ihren Beinen, schob einen Finger in sie, und sie fühlte nichts als diesen Ort, an dem er mit seiner Zunge war und gleichzeitig tief in ihr, und der sich warm über ihren ganzen Körper auszubreiten schien. Sie zog ihn zu sich hinauf, öffnete seinen Gürtel, den Reißverschluss, und schloss ihn zwischen ihre Oberschenkel, Hände an seinem Hintern. Die Blicke hatten sie fest ineinander verschränkt, bis sie gleichzeitig kamen, was bald geschah, nach wenigen Stößen, und dann umarmten sie sich, sein Kopf lag an ihrem Hals, sie hatte Beine und Arme um ihn geschlungen, so hielt sie ihn lange. Bis es unbequem wurde und darüber hinaus, und erst als der ziehende Schmerz in ihren Oberschenkeln unerträglich wurde, lachte sie etwas und schob ihn von sich.
Mit den Hosen in den Kniekehlen und noch halb aufgerichtetem Glied, das sich unter seinem Hemd abzeichnete, stand er in der Helligkeit des Zimmers. Sie rutschte von der Kommode und zögerte einen Augenblick. Es war ihr, während warme Samenflüssigkeit an den Innenseiten ihrer Beine hinunterrann, als wäre das schräge Nachmittagslicht, das jetzt durch die Scheibe hereinfiel, nur dazu da, um ihre Nacktheit auszuleuchten. Sie zog sich die Hose hoch und ging ins Bad.
Er zog sich auch die Hose hoch, schloss den Gürtel, fuhr sich mit einer Hand durchs Haar, ging dann zum Bett hinüber und setzte sich auf dessen Kante, auf jene Stelle, wo vorher sie gesessen hatte, was sich in einer kleinen Mulde abzeichnete. Er saß da, mit gesenktem Kopf, die Ellbogen auf die Oberschenkel gestützt, die Finger ineinander verzahnt. Als die Badezimmertür aufging und sie herauskam, war sie aber nicht, wie er es erwartet hatte, angezogen, sondern vollkommen nackt, und sie trat in das lichthelle Viereck des Fußbodens hinein. Das Licht schien sie wie ein Sockel etwas vom Boden hinaufzuheben. Ihr Schatten lag hinter ihr, wies zur Tür. Sie verließ den Lichtsockel, durchquerte das Zimmer und blieb neben ihm stehen. Er dachte, dass sie sich nicht verändert habe, dass diese zehn Jahre an ihr vorübergegangen waren, spurlos, wie man sagte, und nicht durch sie hindurch. Die Jahre waren an ihr vorbeigeflossen und hatten sie nicht mitgenommen, im wahrsten Sinn des Wortes. Nur ihre Hände, dachte er, die neben ihrem Körper herabhingen, die Hände waren an ihr die einzigen Körperteile, in denen die Zeit, das Alter zu erkennen waren. Adern kreuzten über die Handrücken, und die Fingerknöchel traten stärker hervor als früher. Als hätte sie nur ihre Hände darin gebadet, im Fluss der Zeit, das dachte er. Er nahm ihre Hand, drückte sie an seine Wange. Und da meinte er, die Hände zu spüren, die sie ihm früher einmal über die Augen gelegt hatte, damit er sie nicht erkenne, als er sie aber sofort erkannt hatte, in jenem Berliner Wohnzimmerclub, vor vielen, vielen Jahren. Tränen stiegen in seine Augen, und er presste die Lider aufeinander. Sie strich durch sein Haar, über seine Stirn. Sie küsste seine Augen. Und sie zog ihn aus, wie man ein Kind auszieht. Sie legten sich nebeneinander ins Bett, hielten sich die Hand und sahen an die Zimmerdecke.