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«Ja«, sagte sie und sah an ihm vorbei zum Fenster.»Draußen ist übrigens Sonnenuntergang«, sagte sie und wies mit dem Kinn in Richtung Fenster,»den solltest du nicht verpassen.«

Er sah ihr nach, wie sie zum Fenster ging und in einer lässigen Bewegung eines der Laken vom Bett und hinter sich her durch die verschiedenen Lichtzonen des Raumes zog, und wie die Dämmerung über ihren wie von einer Toga verhüllten Körper glitt, bis sie vor der Fensterfront stehen blieb, und es erschien ihm, als laufe sie nicht durch ein Hotelzimmer, sondern durch die Zeit, die in unterschiedlich helle Zehnjahresabschnitte unterteilt war.

«Du spinnst«, sagte er leise. Er sah ihren Umriss im Gegenlicht vor dem Fenster und sah gleichzeitig ihren Umriss vor dem Himmel über dem gewaltigen Felsabbruch, der vom Engadin zum Bergell hinunterführt. Er stellte sich neben sie.

«Das kannst du vergessen«, sagte er» Dass ich dich jetzt so gehen lasse.«

«Ich weiß«, sagte sie.

Sie rauchten und sahen durchs Fenster. Ihre Schultern berührten sich nicht, waren aber so nah, dass jeder die Wärme des andern zu spüren glaubte.

«Lass uns was essen gehen«, sagte sie schließlich.

«Wann? Jetzt oder in zehn Jahren?«

Sie drehte sich zu ihm und lächelte, hielt vor der Brust die Bettlakentoga geschlossen, die sie, als sie ins Bad ging, hinter sich herzog wie eine Schleppe.

«Jetzt«, rief sie aus der Badezimmertür,»aber du musst zugeben, es wäre witzig.«

«Was?«

«Sich alle zehn Jahre zu treffen.«

MORGEN FRÜH AM HAFEN

Der Kellner wunderte sich über die halbvollen Teller, die das offenbar appetitlose Paar kommentarlos, mit einem stummen Nicken, zurückgehen ließ. Er wusste nicht, sollte er Mitleid mit ihnen haben. Er lächelte nachsichtig. Vergeht auch wieder, mochte er denken, und brachte die Rechnung.

Sie zahlten aber nicht. Sie blieben sitzen, die Gedanken ineinandergefaltet, umschlossen von der engen Schale des Augenblicks. Die Rechnung lag unangetastet vor ihnen auf dem Tisch. Dem Kellner wurde ihr Anblick zu eigenartig, und er brachte noch eine Karaffe Rotwein. Also tranken sie. Das wenige, das sie einander sagten, war belanglos. Erst als das Restaurant sich fast geleert hatte und schon die Stühle kopfüber auf den Tischen saßen, zahlten sie und gingen hinaus.

Es war eine milde, mit Licht verdünnte Nacht. Sie liefen zögernd hinein wie in einen vergangenen Tag. Und als Betty darüber nachzudenken begann, wohin sie jetzt sollten, fiel ihr Blick auf Toms Gesicht unter einer Straßenlaterne und auf sein Gesicht hinter einer Glasscheibe, einem von Fliegendreck verschmierten Autofenster, und vor einem Küchenfenster zu einem grauen Berliner Hinterhof, und sein Gesicht vor dem grellen Gelb einer Rapswiese und vor dem Haupteingang der Musikhochschule im Abenddämmer und dann wieder unter der Laterne, und sie begann zu weinen. Sie weinte über all die vergangene Zeit, die sich plötzlich in diesen Bildern zu häufen schien und doch verloren war.

«Hey«, sagte Tom und legte seine hohle Hand an ihre Wange. Er umarmte sie. Sie weinte. Sie machte sich los. Er suchte in seinen Taschen nach einem Taschentuch. Aber nie hatte er in den wesentlichen Momenten seines Lebens ein Taschentuch bei sich gehabt, das er einer Frau hätte reichen können. Betty aber hatte selber eins.

«Du hast noch gar nichts von Neapel gesehen«, sagte sie, blickte zu Boden und zog entschuldigend die Schultern nach oben.»Und jetzt ist es zu spät.«

Wieder gingen sie über den ovalen Platz, der überflutet war vom Dämmerlicht, das gleichmäßig und gelb vom illuminierten Säulengang der Basilika San Francesco di Paolo herabströmte. Die Stimmen der über den Platz gehenden Menschen waren gedämpft. Und auch Betty und Tom glitten nahezu lautlos über das wie Wasser glänzende Oval, den nächtlichen See dieses Platzes, und setzten sich auf eine Bank unter Palmen. Sie betrachteten den Vesuv in der Ferne. Die an seinen Flanken aufsteigenden Lichter.

«Die Neapolitaner«, sagte Betty,»sie sind wirklich bescheuert. «Und sie lachte schnaubend durch die Nase.»Haben nichts Besseres zu tun, als ihre Einfamilienhäuser, ihre Vorgärten und Carports direkt auf dem Vesuv zu bauen, obwohl sie wissen, dass er jeden Moment ausbricht und alles für immer unter Asche und Lava begräbt.«

«Tja«, sagte Tom.»Sie haben Humor.«

«Aber echt«, sagte Betty.»Ich hab ihm alles erzählt«, sagte sie und änderte nicht ihre Blickrichtung, reckte ihr Kinn gen Vesuv.

«Wann?«, sagte Tom. In ihm war es ganz still.

«Morgens, bevor ihr gefahren seid.«

«Und warum?«

«Wir hatten gestritten. Aus Blödheit«, sagte sie,»aus Eifersucht, ich weiß nicht. Ich hab es mich tausendmal gefragt.«

«Deswegen hast du mich angerufen, oder?«, sagte er.

Sie verschob nur ihren Mund etwas und sah weiter geradeaus auf den schlafenden Vesuv.

Er nickte vor sich hin. Er stand auf, lief einen Kreis vor der Bank, er setzte sich wieder.»Ich hab es mir gewünscht«, sagte er schließlich.

Betty schwieg.

«Ich hatte eine Sternschnuppe gesehen am See. Ich hatte mir gewünscht, dass die Bahn frei wäre für uns. Ich hatte damals gedacht, dass das Schicksal gut wäre, für uns da wäre, dass es alles so fügen würde, dass es schon irgendwie für alle passt. Aber es ist nicht so.«

«Man kann sich nichts wünschen vom Schicksal«, sagte sie.»Dem Schicksal sind wir scheißegal. Es ist nicht deine Schuld.«

«Doch«, sagte er. Und dann erzählte er, was er noch nie erzählt hatte, nicht einmal sich selbst, was er wirklich fast vergessen, herausgetrennt hatte aus der Erinnerung, so dass nur eine gestrichelte Kontur übrig geblieben war um einen weißen Fleck: den seiner Schuld. Denn er hatte nicht sofort Hilfe geholt an jenem Nachmittag. Er hatte sich hingesetzt auf eine Bank an der Zugstation Morteratsch und gewartet, vielleicht stundenlang, dass Marc käme, vielleicht sei er sogar eingeschlafen, er wisse es nicht, er glaube schon. Die Sonne habe geschienen, kurz oder lang. Er wisse es nicht. Er habe sich gewärmt auf der Bank vor der Zugstation Morteratsch und auf Marc gewartet, aber Marc sei nicht gekommen, aber Marc hatte den Autoschlüssel. Und da habe er auf ihn gewartet, bis es dunkel gewesen sei. Wäre er zwei Stunden eher losgegangen, sagte er, auf die Lichter des Vesuvs blickend, und wunderte sich, dass es so einfach war, es zu erzählen, es auszusprechen nach all den Jahren, dann hätten sie vielleicht noch fliegen können, aber er habe nur dagesessen und gewartet.

Sie schwiegen. Das von ihm Gesagte erschien Tom schon sehr weit weg, als Betty sprach:»Im Schnee stirbt man schnell, wenn man sterben will. «Auch ihre Stimme klang wie von fern. Sie saß zwar neben ihm auf der Bank, war aber eigentlich längst fortgegangen, in die Tiefe der Zeit zurück.

«Lass uns gehen«, sagte sie und stand auf. Er wollte die Hand nach ihr ausstrecken, sie berühren, ihre Anwesenheit überprüfen, aber er ließ es sein.»Warst du mal in Rom?«, fragte er stattdessen.

Sie nickte.

«Am Flughafen?«, sagte er.

Nein, sagte sie, sie sei immer mit dem Zug nach Rom gefahren, warum er das wissen wolle. Aber er antwortete nicht, sah nur wie geistesabwesend auf einen Punkt auf ihrer Wange, den er auch dann noch zu betrachten schien, als ihre Wange gar nicht mehr da und Betty schon aufgestanden war.»Lass uns gehen«, sagte sie noch einmal.

Es war nicht weit. Sie überquerten den Platz, bogen in die Via Mergellina, und da nahm sie seine Hand. Ohne ein Wort liefen sie am Lungomare entlang, passierten die hell erleuchtete Drehtür, Hand in Hand.

«Schlaf mit mir«, sagte sie oben im Zimmer.

Durchs Fenster fiel nur etwas Licht. Eine vom Meer her kommende Dunkelheit erfüllte den Raum, bedeckte ihre Körper. Der Straßenverkehr war kaum zu hören. Sie wunderte sich, dass er so schnell eingeschlafen war. Vorsichtig löste sie ihre Hand aus der seinen, stand auf und ging ins Badezimmer. Sie machte Licht und ließ die Tür einen Spaltbreit offen, damit sie ihre Kleider fände. Sie sah den Brief. Der Schein des Badezimmerstrahlers lag darauf. Sie zog sich an. Slip, Unterhemd, Hose, Bluse, fertig. Im Vorübergehen betrachtete sie mit schrägem Kopf den Umschlag auf den Fußbodenkacheln. Sie blieb stehen und beugte sich hinab. Ein altes Sparkassenkuvert, auf dem mit lockerer, nach rechts sich neigender Schrift die Worte» Für Hedda «geschrieben standen. Wie sie diese Schrift kannte, noch immer erkannte, die nachlässige, etwas ungelenke Schrift eines Schülers. Sie betrachtete das Kuvert. Es war zerknittert, einmal zusammengefaltet, durch das matte Sichtfenster hindurch erschienen die Buchstaben.»Du wunderst dich«, entzifferte sie und» wegwerfen«. Sie zögerte einen Moment, strich dann mit beiden Händen ihr Haar hinter die Ohren und verließ das Badezimmer. Sie stellte sich ans Fenster und sah auf die immense Dunkelheit draußen über dem Meer.