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Sie atmete. Ein und aus. Das ganze Leben lang. Sie schloss die Augen. Für Hedda, hatte er geschrieben, dachte sie. Die Dunkelheit des Meeres war unter ihren Lidern. Sie überlegte, ebenfalls einen Brief zu hinterlassen.»Für Tom. Bis morgen früh am Hafen.«

TIRRENIA

Als er am Morgen am Molo Beverello saß, wo der alltägliche Betrieb an Dichte gewann, Touristen mit riesigen Rollkoffern, gepäcklose Geschäftsreisende, Arbeiter, und vor ihm die Schlangen der Wartenden an den Billetthäuschen der verschiedenen Schifffahrtsgesellschaften, SNAV, Caremar, Tirrenia, klangvolle Namen, die er sich in Gedanken vorsagte, Namen, die von Ferne und Sonnencreme und von Abenteuern sprachen, Stromboli, Palermo, Tunis, Panarea, Ziele, die in der Vorstellung schöner sein mochten als in der Wirklichkeit, da war ihm keineswegs bewusst, dass er sich nicht bei seinen Kollegen abgemeldet und dass er darüber hinaus sein Handy im Hotelzimmer vergessen hatte. Er dachte an die Kollegen wie an etwas sehr Kleines und Entferntes, etwas, das hinter der Scheibe eines davoneilenden Zuges immer undeutlicher wird, er dachte an sie gewissermaßen aus dem Augenwinkel seines Denkens heraus.

Er las» Tirrenia«, und er überlegte, wie kurz oder wie lang zehn Jahre sein können. Wenn er auf sein Leben zurückblickte, wie man von einem Gebirgsgipfel den zurückgelegten, angesichts der Höhe einerseits unbedeutenden, andererseits ungeheuer weit erscheinenden Weg überblickt, dann verkürzten sich in seiner Wahrnehmung die einzelnen Zehnjahresabschnitte, je älter er geworden war. Wie lang ihm als Kind ein Jahr erschienen war. Wie gedehnt und endlos, ein halbes Leben, war ihm die Schulzeit gewesen. Und jetzt ein Lufthauch, und er dachte an seine Großmutter und ihr geöffnetes Fenster im Winter, von dem man am Ende des Lebens zurücktritt ins Dunkle.

Er las» Caremar «und wunderte sich. Nicht so sehr über das wirklich Erstaunliche, darüber, dass er Betty getroffen hatte, darüber, dass sie sich nach all den Jahren wiedererkannt, dass sie sich geliebt hatten, sondern vielmehr über die einfachsten Dinge. Sie sind es, dachte er, die einfachsten, die scheinbar selbstverständlichsten Dinge, die am erstaunlichsten sind. Dass wir leben zum Beispiel.

Möwen kreisten über den Schiffen. Die Sonne schritt langsam ihre Bahn ab. Das Meer änderte je nach ihrem Stand seine Färbung, von Asphaltgrau zu Metallgrau zu Tintenblau. Ein magerer Hund fraß an einem weggeworfenen Butterbrot. Die Blätter einer Palme schwankten im Wind. Die Rufe der Hafenarbeiter in ihrer gedehnten, melodiösen Sprache, und das Surren eines Rollkoffers dicht neben ihm. Aber es war nicht Betty. Es war eine Unbekannte, die sich für einen kleinen Ausschnitt seines Lebens neben ihn auf die Bank setzte. Sie stand auf und verließ ihn. Andere Unbekannte setzten sich zu ihm und verließen ihn wieder. Er aber, während all die zahlreichen Unbekannten kamen und gingen, blieb sitzen und dachte an die Länge von zehn Jahren. Er dachte an die Länge des Augenblicks. Ein Meter und ein Millimeter in der unendlichen Weite des Universums. Er lächelte. Er würde Maren anrufen, wenn er die Nummer noch fand. Sich Rom zeigen lassen oder Palermo oder Tunis. Er beobachtete die Sonne, wie sie unbeirrt über den Himmel schritt, in den Mittag, den Nachmittag, den Abend hinein, er kaufte sich einen Kaffee und rauchte eine Zigarette, und als er die Sonne hinter der Meeresfläche untergehen sah, dachte er an die Zentralperspektive, und wie seltsam doch der Mensch sei, wie mittelalterlich noch immer seine Wahrnehmung. Die Sonne geht unter, dachte er, denken wir, und dabei sind es doch wir, die untergehen.

Es war Abend geworden. Die Billetthäuschen schlossen. Die Menge der Reisenden zerstreute sich, fuhr ihren wohlklingenden geheimnisvollen Zielen entgegen, oder sie kehrte zurück in ihr Heim, das vielleicht ebenfalls in der Vorstellung schöner war als in der Wirklichkeit. Nur einige Arbeiter, deren Stimmen tönten wie fremder Gesang, waren noch da und der magere Hund. Tom bedauerte, dass er ihm nichts geben konnte. Er streichelte ihm den rauen Kopf.»Braver«, sagte er.»Bist ein Braver. «Immer hatte er Hunde lieber gehabt als Katzen. Das Tier schnüffelte an seinem Bein, leckte ihm zum Abschied die Hand und trabte dann nachdenklich in Richtung Mole davon. Tom Holler blickte ihm lange nach. Und plötzlich fiel ihm eine Melodie ein. Eine zweite kreuzte die erste, verschränkte sich für wenige Takte mit ihr, verließ sie und verklang in einer triolischen Bewegung. Er musste das aufschreiben. Er suchte einen Stift, aber er fand keinen in seinen Taschen.

Er stand auf. Ein hellerleuchtetes Schiff mit der Aufschrift» Tirrenia «lag einsam vor der blauen Nacht. Die Arbeiter lösten die Taue, einer pfiff. Er dachte: Irgendjemand hat sicher einen Stift. Er ging auf das Schiff zu. Schon begann die Klappe sich langsam zu schließen. Er wusste nicht, wohin es fahren würde. Es war ihm egal. Irgendwo würde er ankommen.

INFORMATIONEN ZUM BUCH

Wie viel Liebe verträgt eine Freundschaft?

Dieser Roman handelt vom verpassten und verspielten Glück und von dem Unglück, im rechten Moment die falschen Worte gesagt zu haben. Er erzählt die Geschichte zweier Männer und einer Frau, die ihre Freundschaft und ihre Liebe aufs Spiel setzen.

Tom Holler, halbwegs erfolgreicher Pianist und frisch getrennt von seiner Frau, tourt mit seiner Berliner Band durch Italien. In Neapel hofft er seine große Liebe wiederzutreffen: Betty Morgenthal. Doch je näher ihre Begegnung rückt, desto tiefer taucht Tom in die Vergangenheit ein. Denn vor vielen Jahren verunglückte Marc, sein bester Freund und Bettys Lebensgefährte. Er hat keine andere Wahl, als die fatale Dreiecksgeschichte noch einmal zu erleben.

Berlin und Italien, Leichtsinn und Schwermut, Witz und Dramatik, die lauten und die leisen Töne — dieser Debütroman ist voller Musik.

„Es ist unerhört selten, dass eine Frau mit dieser Gerechtigkeit, jenseits aller Klischees, über einen Mann schreibt. Was für ein Roman! “ Michael Kumpfmüller

„Untergründig und scharfsinnig und im nächsten Moment sehr poetisch und heiter." Rainer Merkel

INFORMATIONEN ZUR AUTORIN

MONIKA ZEINER, geb. 1971, studierte in Berlin und Neapel und promovierte über Liebesmelancholie im Mittelalter. Sie veröffentlichte mehrere Hörspiele und ist Sängerin und Texterin der Italo-Swing-Band marinafon. Sie lebt in Berlin.