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Holler schwieg.

Wegener räusperte sich, indem er eine locker zur Faust geformte Hand vor den Mund hielt. Ob Holler denn bald einmal in Berlin spiele, fragte er blinzelnd.

Er habe heute Nachmittag gespielt, antwortete Holler.

Wegener staunte.

«Schumann.«

«Ich meinte«, sagte Wegener,»ob Sie demnächst ein Konzert geben.«

«Ach so«, sagte Holler,»Italien«, fuhr er fort und drehte sich eine Zigarette und zündete sie an, obwohl er sich denken konnte, dass es Hedda nicht gutheißen würde: ein Nichtraucherhaushalt endlich, und er hatte nichts anderes zu tun, als ihr postwendend die schöne frische Leere vollzuqualmen.

«Italien?«, sagte Wegener. Tom verstand nicht, neigte fragend den Kopf.

«Sie sagten Italien?«

«Wir spielen in Italien, ja«, sagte er und sah sich nach einem Aschenbecher um, entschied sich für die Blumenvase. Lutz Wegener aber konnte es fast nicht glauben: Italien! zufällig hatte er nämlich seine Dissertation in Literaturwissenschaft über einen italienischen Dichter mit einem Raubtiernamen verfasst, den mit Hölderlin zu vergleichen er sich zur Aufgabe gemacht hatte, und war bei dieser Gelegenheit in ganz Italien herumgekommen. Bologna, Rom, sogar Sizilien.

«Sogar Sizilien«, murmelte Holler.

«Ja, Sizilien ist herrlich!«

«Bestimmt«, sagte Holler und beendete somit auch das Italienthema. Er war kein dankbarer Gesprächspartner, zugegeben. Hatte er aber auch nie behauptet.

Er wippte mit den Knien, lauschte auf die Küchengeräusche, hohes Klappern, tiefes Klappern, immerhin schien sie beschäftigt, aber er konnte nicht verstehen, dass es so lange dauerte, ein paar Spaghetti zu machen, aber» Pasta con «dauerte vermutlich einfach länger. Holler rauchte. Wegener sagte:»Die vom Barock geprägte sizilianische Architektur. «Holler trommelte mit den Fingern auf seinem Knie. Wegener sagte:»Sie müssen unbedingt den Monte Pellegrino besuchen, wenn Sie in Palermo sind. «Er nickte aufmunternd. Holler nickte auch.»Zu Fuß«, sagte Wegener,»eine herrliche Wanderung, etwa drei Stunden, und«, fuhr er fort,»die Grotte der Heiligen Rosalia. «Holler nickte dankbar. Wegener sagte:»Die Grotte der Rosalia hat ja schon Goethe besucht. «Holler trank einen großen Schluck Wein. Er schnippte etwas Asche in die Vase. Er dachte an Goethe, dachte an seine Deutschlehrerin Frau Gabel, und Wegener sagte:»Normannische Zeit. «Holler stellte das Weinglas ab. Die Tischdecke blendete. Er dachte an das blauschwarze Haar der Gabel, dann nur noch an Schwarz, dann an nichts, wenn nichts etwas ist, und Wegener sagte:»Arabische Zeit«, er sagte» griechische Zeit«, er sagte» elymische Zeit«, und Holler nickte. Die gleichförmige Bewegung seines Kopfes und das ununterbrochene Rauschen der Worte riefen ein Gefühl der Ewigkeit hervor in ihm, als hätte er schon immer nickend hier gesessen, während Lutz Wegener schon immer über die elymische Zeit gesprochen hätte.

Als Wegener sagte:»Sizilien ist ja unter kunsthistorischen Aspekten einzigartig«(Holler verstand nicht den Sinn der einzelnen Worte, hörte nur deren Geräusch), trat aber das rhythmische Klappern von Absätzen immer plastischer aus dem Hintergrund hervor, worauf die Gastgeberin gut gelaunt mit einem Topf» Pasta con Pesto«, sagte sie, erschien und sogar den Zigarettenrauch übersah.

Holler tauchte aus der Ewigkeit auf wie aus einem Goldfischglas.»Ich muss aufs Klo«, sagte er. Er erschrak über die Lautstärke der eigenen Stimme und über die Stille, die scharf an sie angrenzte. Er lächelte entschuldigend, eilte durch den weiten Raum, indem er die Aufmerksamkeit Heddas und Lutz Wegeners hinter sich herzog, und trat auf den Flur hinaus. Nachdrücklich öffnete er die Badezimmertür und schloss sie von außen, schlich weiter bis zur Telefonkommode, sah erleichtert die noch ungeöffneten Briefe, durchwühlte den Stapel mit flatternden Händen, Telekom, Deutsche Bank, Zeit, lauter Rechnungen und ganz unten endlich, zwischen einem Baumarkt-Prospekt, das giftgrüne Zimmerpflanzen zu einem erstaunlich günstigen Preis anbot, und einem H&M-Leporello mit Kindermode, entdeckte er sein altes Sparkassenkuvert. Es war noch ungeöffnet. Er warf einen kurzen Blick in Richtung Wohnzimmer, nichts, er faltete den Brief und steckte ihn in die Hosentasche, dann lehnte er sich mit dem Hintern an die Kommode, die etwas wackelte, fühlte sich plötzlich ebenso wacklig, als trügen ihn die Beine nicht, andererseits musste er jetzt tatsächlich aufs Klo. Er wartete einen Moment, bis er genügend Kraft gesammelt zu haben meinte, und schlich ins Bad, pinkelte im Stehen (kleine Bösartigkeit Hedda gegenüber), vermied es aber konsequent, als er sich die Hände wusch, in den Spiegel zu sehen, ging ins Wohnzimmer zurück, merkwürdig leicht jetzt wie ein Stofftier, aus dem man die Füllung herausgeschüttelt hat.

Auf einmal hatte er keine Lust mehr, nach Hause zu gehen, hatte eigentlich mehr das Bedürfnis nach Gesellschaft, außerdem unterhielt man sich schließlich ausgezeichnet, wie er sich sagte, also erwog er zu bleiben. Als er im Türrahmen stand, um sich zu verabschieden oder zu bleiben, sah er Folgendes: Es ging ein Blick von Hedda zu Lutz Wegener, es knüpfte dieser Blick ein rosafarbenes Band von ihr zu ihm und wieder zurück.

Sie hatten ihn nicht kommen hören und erschraken, als er den Stuhl rückte, um sich zu ihnen zu setzen. Der Blick zerriss. Schnell wünschten sie einander einen guten Appetit und begannen zu essen. Hedda und Wegener entfalteten in einer synchronen Bewegung ihre Servietten und legten sie auf die Knie. Ein Kerzenleuchter streute unruhiges Licht über den Raum. Holler stellte sich vor, das Kind von Hedda und Lutz Wegener zu sein. Ein etwas ungeliebtes, weil zu dickes oder unbegabtes Kind schöner und perfekter Eltern.

Die» Pasta «schmeckte, wie er fand, nicht gut. Aber Wegener lobte alles sehr. Holler, das Kind, schwieg, aß und spürte plötzlich den Hunger, meinte tagelang nicht gegessen zu haben, jedenfalls konnte er sich an kaum eine Mahlzeit erinnern, einen Döner und eine Falafel irgendwann, vor Tagen. Er nahm sich eine zweite Portion, dann eine dritte, sicher aß er unschön, wie er oft unschön aß (laut Hedda), zumal wenn er großen Hunger hatte, weil er (laut Hedda) dann seinen Kopf fast bis auf den Teller hinabsenkte. Jetzt aber genoss er es geradezu, den Kopf bis auf den Teller hinabzusenken, genau wie Hedda es vermutlich genießen würde, hochhackige Schuhe zu tragen.

Als er fertig war, breitete sich angenehme Müdigkeit in ihm aus. Er lehnte sich zurück, betrachtete lange seine Eltern. Dabei hörte er einen gewissen Rhythmus im Kopf, einen geraden 5/4-Takt, wie ein Zug, der über alte Gleise rumpelt.

«Thomas, bitte«, Heddas Stimme schien aus ihren Augen zu kommen. Erst jetzt merkte er, dass er den Takt mit seiner Gabel auf dem Teller schlug.»So, so«, sagte er, als er die Gabel parallel zum Löffel auf den Teller gelegt hatte, wie es sich gehörte,»da haben Sie also studiert und sogar promoviert, das wird Hedda beeindrucken!«Heddas Blick verfestigte sich.»Auch wenn man nicht Äpfel mit Birnen vergleichen sollte«, fuhr er fort,»und auch nicht Ihren italienischen Raubtierdichter mit Hölderlin, finde ich.«

«Wie meinen Sie das?«, fragte Lutz Wegener interessiert.

«Gibt es eigentlich noch Nachspeise?«, Holler blinzelte in Heddas Gesicht.»War ein Witz«, sagte er.

Hedda knetete ihre Serviette in der Hand. Holler schenkte allen nach, etwas Wein schwappte auf das weiße Tischtuch.

«Man soll nicht immerzu Birnen mit Äpfeln vergleichen«, fuhr er fort,»weil es keinen Sinn hat. Weil man das eine nicht mit dem andern vergleichen kann, weil die Welt aus beliebigen Einzelteilen besteht und kein riesiges Puzzle ist aus Stücken, die man nur finden und zusammensetzen muss«, sagte er, war sich aber nicht sicher.

Dann könne man aber überhaupt keine Wissenschaft betreiben, entgegnete Lutz Wegener, indem er sich zurück, dann wieder nach vorn lehnte, seinen Ellbogen auf dem Knie abstützte und mit der Handfläche Kreise beschrieb. Es sei doch so, dass die ganze Wissenschaft auf Vergleichen beruhe, ein Netz von Beziehungen herstelle. Und er redete noch weiter über Wissenschaft und wissenschaftliche Verfahren, aber Holler hatte schon wieder einen Rhythmus im Kopf, benutzte nun Löffel und Gabel, indem er mit dem Löffel einen 5/4- und mit der Gabel einen 4/4-Takt schlug.