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«Thomas!«

Irgendwie gelang es ihm, den Blick zu heben, die ganze Bleikugel seines Kopfes.»Ja, Liebling?«

«Thomas, du solltest nach Hause gehen!«

«Ja!«, rief er. Und er schnellte vom Stuhl, tippte sich kurz mit zwei Fingern an die Stirn, nickte Lutz Wegener zu:»Machen Sie weiter so«, sagte er.»Immer schön Zähne putzen!«Er drehte sich um, etwas zu schwungvoll, so dass er Probleme hatte, das Gleichgewicht zu halten.

Mitten auf dem Flur saß Callas. Ihre grünen Augen wühlten sich in seine Seele. Er wusste, die Katze konnte Gedanken lesen. Sie fixierte ihn ungefähr eine halbe Minute, bevor sie mit einem entsetzten Schrei in eines der Zimmer zurückhuschte.

«Deine Jacke!«, rief Hedda, die ihm bis zur Tür gefolgt war.

«Ach so«, sagte Holler.»Es ist Frühling.«

«Du übertreibst mal wieder.«

«Er ist nett«, sagte er.

Röte huschte über ihr Gesicht.»Er ist ein Kollege.«

Holler nickte.

«Danke für das Ei«, sagte sie.

«Wirf es weg, gelber Sack, denke ich. «Holler zog die Jacke an und ging hinaus.

«Thomas?«

Er blieb in ihrem Schatten stehen, der auf den Flur in die Februarkälte hinausfiel.

«Callas hat Krebs, deshalb ist sie so komisch.«

«Das tut mir leid«, sagte Holler, der sich aber eigentlich nicht erinnern konnte, dass sie jemals anders gewesen war, und es tat ihm auch nicht leid, weswegen er sich schämte. Er sah, dass Heddas Augen glitzerten, das Zwielicht des Treppenhauses schwamm darin, Flüssigkeit, die stieg und stieg, bis das Wasser auf den Lidrändern balancierte. Er hätte wegsehen müssen, dachte er, diskret, der Moment, in dem die Feuchtigkeit aus dem Auge fällt, zur Träne wird, ist ein äußerst privater, der privateste vielleicht. Stattdessen sah er hin, genoss die Überlegenheit. Plötzlich, die Tränen liefen inzwischen hinab, hinterließen zwei Spuren auf ihren Wangen, streckte Hedda die Hand aus, berührte ihn an der Brust, ungefähr dort, wo das Herz saß, als wollte sie einen Fussel wegzupfen. Sie machte einen Schritt auf ihn zu, mit einem Ruck, wie um sich fortzureißen von irgendwo, legte ihren Kopf an seine Schulter. Er nahm sie zögernd in den Arm und strich ihr kurz übers Haar, was schwierig war, wegen des Pferdeschwanzes. Er roch ihr neues Parfum. Sie machte sich los, sah ihn noch einmal lange an und glitt mit ihrem Schatten in die Helligkeit der Wohnung zurück. Der Lutz-Wegener-Abend konnte beginnen.

DER GANZ ALLGEMEINE TOD

Der Tod ist das letzte Blatt im Bilderbuch eines uralten Kindes. Ein dünner Pfad, der durch gemaltes Märchengelände führt. Er geht an Berge geschmiegt, halb verborgen von hängenden Pflanzen, für jedes Jahr der Menschheitsgeschichte eine: Waldefeu, Lianen, unendliche Dornbüsche. Er geht inmitten einer schweigenden Vegetation, wandert durch dunkle Täler, über ernst blickende Felskämme, zielt in weiten Bögen auf die andere Seite der Gipfel, verliert sich in blauer Ebene, von keinem Horizont je begrenzt. Und menschenleer ist sein Weg, denn er öffnet sich nur absoluter Stille. Die Lebenden finden ihn nicht. Zu laut sind die Schritte, zu fordernd ist ihr Suchen. Er durchwandert ein Gebiet, von dem niemand ahnt, wo es liegt, von dem niemand ahnt, was darin geschieht. Wie das verlorene Atlantis existiert es neben den Landkarten. Niemand weiß, ob es da ist, und doch muss es da sein. Ganz nah. Aber es gibt keinen Übergang, es gibt kein Zwischen. Hier das Leben, dort der Tod, beides getrennt durch eine Leere, weiter als die Distanz des Erdmittelpunktes bis zum äußersten Planeten des Universums. Es hängt keine Brücke. Der Pfad beginnt im Nichts.

Ein junger Mann und eine junge Frau stehen in einem weiß gekachelten Kellerraum. Sie stehen nebeneinander, aber ihre Schultern berühren sich nicht. Sie gehören zusammen, und doch trennt sie eine Entfernung, eine Luftmenge zwischen ihren Umrissen, die eine Spur zu groß ausfällt. Sie scheinen miteinander zu stehen, aber jeder ist für sich allein. Allein mit dem Toten, der auf der Bahre liegt und auf den ihre Blicke hinabfallen wie ein unwiederbringlich zu Bruch gehender Gegenstand.

Es ist ein Körper, der da liegt. Es ist der Körper ihres Freundes. Er ist bedeckt bis zur Brust von einem grünen Tuch. Die Schultern ragen hervor, rührend spitz, daneben die Arme, Arme eines Jungen. Die Brust ist flach, und sie hebt sich nicht. Darüber der Kopf und der Hals, der in einem merkwürdigen Doppelkinn beginnt. Es ist ein Kinn, wie es der Lebende niemals hatte. Es muss an der Stellung liegen. Die Toten legen sich nicht, sie werden gebettet, ohne Rücksicht auf ein Doppelkinn, das sie zu anderen Menschen formt. Und das Gesicht? Geschlossen die Augen, gewölbt unter den großen Lidern, zugedrückt vermutlich von einem Mitarbeiter des örtlichen Klinikums. Ebenfalls annähernd geschlossen der Mund. Doch nicht ganz, denn die blasse Linie der Lippen ist an mehreren Stellen leicht unterschimmert von der Reihe der Zähne, kaum wahrnehmbar. Die Haut über Wangen und Nase ist stumpf, tatsächlich wächsern. Gelbliches Weiß, unterspannt von den Knochen, die sich in die kühle Kellerluft wölben. Viel zu hoch ragen die Nase, die Bögen des Stirnknochens unter den Brauen. Er sieht nicht aus, als schliefe er, dieser Körper. Der Tod ist mit nichts zu vergleichen.

Der junge Mann, der steht und schaut, sieht vor sich ein Wunder, ein geheimes Mysterium. Und er vergisst zu atmen. Er streckt die Hand aus, berührt den Toten, die Finger legen sich mit der Rückseite auf dessen Wange. Sie ist kalt, kälter als erwartet, so als hätte in diesem Körper niemals Wärme zirkuliert, niemals eine mittlere Körpertemperatur von 36,8 Grad Celsius. Die Wange ist kalt, und der junge Mann weiß nicht, wo der Ursprung dieser Kälte liegt, ob sie daher rührt, dass der Leichnam aus dem Eis kommt, ob sie aus der Kühlanlage des örtlichen Klinikums stammt, oder ob es schlicht der Tod ist, der allgemeine, ganz einfache Tod, der sie mitbringt. Der Eiswürfel streut, die Luft einfriert um die Gestorbenen und damit sein Reich absteckt, glasklar für alle Lebenden.

«Nein«, sagt der junge Mann und schüttelt den Kopf.»Nein, das ist er nicht.«

«Bitte?«, fragt ein etwas abseits stehender Polizeibeamter. Die junge Frau hebt ihren Kopf, sieht ihn an wie einen Fremden, der einem bekannt vorkommt.

«Das ist er nicht«, wiederholt der junge Mann. Und es stimmt, er ist es nicht. Weiß der Himmel, was das ist auf der Bahre im unterkühlten Keller des örtlichen Klinikums Samedan. Es ist definitiv nicht Marc.

FLIEGEN

Der Tod hat mit dem Leben nichts zu tun, dachte Holler. Wir dürfen uns nicht um den Tod kümmern, solange wir leben, denn solange wir leben, sind wir nicht tot, und umgekehrt. Das Leben und der Tod existieren niemals gleichzeitig und sind daher zwei völlig verschiedene Paar Stiefel, dachte Holler im Flugzeug nach Genua, während sein Blick durch die Scheibe zusammen mit dem Schatten des Fliegers über die weiße Wolkendecke zog. Der Flügel schwankte. Sonnenlicht lagerte in der Rundung der Scheibe. Eine schlecht geschlossene Gepäcktür vibrierte klackend.

«Geht’s dir nicht gut?«, fragte Didi.

«Mir ging’s nie besser«, antwortete Holler, aber es stimmte nicht ganz.

«Du siehst zum Kotzen aus.«

«Das hast du vorhin schon erwähnt.«

«Du siehst jetzt aber noch schlimmer aus, ist dir schlecht?«

«Ich hab wenig geschlafen, das ist alles. «Holler senkte die Tonlage, um das Thema abzuschließen.

«Immer noch Hedda?«, fragte aber Diedrich investigativ.

Da es das Einfachste war, zu nicken, nickte Holler und sah aus dem Fenster. Diedrich, der erst am Vortag aus den USA, den Staaten, wie er es nannte, zurückgekehrt war, wo er, wie er sagte, den Beruf mit dem Vergnügen verbunden und bei Sessions in den angesagtesten Jazzclubs teilgenommen hatte, sprach jetzt über die Frauen im Allgemeinen. Mit Vorliebe sprach er über die Frauen im Allgemeinen und auch im Besonderen, über die physischen Vor- und Nachteile dieser oder jener Studentin (er versah einen Lehrauftrag an der Hochschule, aus deren Umkreis er bevorzugt seine meist jungen Freundinnen rekrutierte), über das eine oder andere Trennungsproblem, mit dem er sich immer dann herumschlug, wenn eine der Damen nicht einsehen wollte, dass der Zahn der Zeit an der Liebe mit besonderem Eifer zu nagen pflegte, was aber nicht Diedrichs Schuld war, denn dieser hatte die Zeit nicht gemacht. Die Liebe — wie auch übrigens die Musik —, sagte er jetzt, vergehe halt in der Zeit, verbrauche sich in der Zeit, das habe er, Tom, selber einmal gesagt. Oder?