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Eine blonde Stewardess zog mit ihrem leisen Wagen an ihnen vorüber und den Blick Diedrichs hinter sich her.

«Und«, sagte er, als die Stewardess hinter ihrem Vorhang verschwunden war,»die Ehe ist überhaupt eine Dummheit, weil die Liebe immer ein Verfallsdatum hat, das nur leider bei manchen Beziehungen sehr klein gedruckt ist, aber es ist immer da«, sagte er. Außerdem gebe es wirklich noch mehr Frauen, you know, das könne er ihm glauben. Italienerinnen zum Beispiel.

Diedrich, seit Hedda Groning-Holler und Tom Holler getrennte Wege gingen, wie es hieß, schien sich für das Sexleben seines Kollegen verantwortlich zu fühlen und versuchte, wann immer er mit einer Frau nach einem Auftritt in ein Gespräch kam, ihn einzubeziehen, woraufhin vor einigen Monaten eine Studentin der Bassklarinette, in deren nach Patschuli riechender Wohngemeinschaft sich allerdings außer Schlafen und einem peinlichen Kaffeetrinken mit einem gewissen Mitbewohner Bernd am Morgen nichts ereignet hatte, der vorläufige und von Diedrich in Unkenntnis der Details als Erfolg verbuchte Höhepunkt geblieben war.

«Oder?«, sagte Diedrich.

Tom nickte. Er hatte nicht zugehört, nur das Wort Italienerinnen hatte er undeutlich verstanden. Er öffnete zwei Knöpfe seines Hemdes und legte seinen Sitz nach hinten. An Schlaf aber war nicht zu denken, da Didi sein Frauenreferat noch nicht beendet hatte. Ein Blick aus dem Fenster zeigte, dass die Wolkendecke sich verloren hatte, nur noch Fetzen trieben in der Luft. Darunter lag schmutzigbraunes Land, eingeteilt in viereckige Flächen von Feldern, Wäldern, Industrieparks, Einkaufszentren, Dörfern, Parkplätzen. Dazwischen die Straßen, die die Parzellen durchschnitten wie Linien auf Zeichenpapier. Alles wird von den Straßen beherrscht, dachte Holler. Die Landschaft wird von den Straßen erst hergestellt, wird von den Straßen gezeichnet. Die Straßen sind der Zeichenstift in der Hand der Menschen.

«Oder auch die eine oder andere Touristin«, sagte Diedrich.

«Ja«, sagte Holler.

«Eben«, sagte Diedrich.

Tom blickte jetzt auf Diedrichs Knie, wo dessen speckige runde Kinderhand lag, mit einem Grübchen über jedem Fingergelenk, vollkommen unbehaart. Diedrich seufzte.»Das wird schon«, sagte er und ließ, Tom hatte es vorausgeahnt, die Gelenke seiner Finger knacken, indem er diese ineinander verschränkte und dann die Handflächen nach außen stülpte. Die Chicks, sagte Diedrich, und meinte die Frauen, stünden ja insgeheim am meisten auf die Typen am Piano. Holler lächelte schwach. Diedrich hatte immer schon» Chicks «gesagt und damit die Frauen gemeint, aber es kam ihm so vor, als dehne er neuerdings den Vokal noch amerikanischer in die Länge. Fast alle Jazzmusiker, dachte Holler, haben ein Faible für alles Amerikanische, unter anderem deswegen hatte er die Jazzmusiker nie gemocht, einschließlich sich selbst. Didi berichtete jetzt von Clubs, in denen er gespielt habe, mit welchen Größen, mit welchen Namen er Gigs gespielt habe. Er müsse das nächste Mal unbedingt mitkommen, sagte er, in die Staaten. Er hatte zwei Gläser Sekt bestellt, die von einer Stewardess mit rechteckigen weißen Fingernägeln gebracht wurden.

«Prost«, sagte Didi,»auf Italien!«

Holler zögerte, denn er hatte eigentlich nichts trinken wollen, nicht schon im Flugzeug. Ein Sektglas aber war klein und schnell geleert. Und auch ein weiteres und ein weiteres und weiteres Sektglas waren schnell von Stewardessenhänden gebracht und von ihm ebenso schnell geleert.

Unter dem Fenster lagen die Alpen. Und die schmutzigdeutsche Ebene war schon vergessen, denn die Alpen, frei und offen und rebellisch, hatten sich aufgebäumt und Straßen und Parzellen einfach abgeschüttelt. Weniger einem Land, einer Nation schienen sie anzugehören als dem Himmel, der ja auch nicht ein deutscher oder ein italienischer oder ein österreichischer Himmel war, sondern ein allgemeiner. Die schneebedeckten Bergspitzen, die dunklen Karstfalten, die felsige, faltige, kompakte Kühnheit, alles erinnerte Tom plötzlich an eine materialisierte Beethovensinfonie. Je weiter der Schatten des Fliegers über die Schneespitzen in Richtung Süden glitt, desto größer wurde Hollers Erstaunen, ein luftiges Gefühl, das in seinem Innern flirrte und wirbelte wie Blütengestöber im April und einer Aufregung glich, die er lange nicht gehabt hatte. Als flöge er, so fühlte er sich auf einmal, und er flog ja auch.

Die Stewardess aber, die mit einer engelähnlichen, zur übermenschlichen Höhe passenden Freundlichkeit und leise duftend an ihre Sitzreihe herangetreten war, sagte lächelnd, es gebe ab sofort keinen Sekt mehr, weil man sich anschnallen müsse und sich im Landeanflug befinde. Ein strenger Engel.

Ins Fensteroval schob sich die Peripherie von Genua. Das Wetter, wie gesagt wurde, war schön, senza nuvole, und 21 Grad, was eine, fand Diedrich, erhebliche Temperatur war für Anfang März. Und Holler fand das auch. Wieder presste er die Stirn an die Scheibe, betrachtete dieses Genua, das aussah wie ein gigantischer Steinhaufen, der ins Meer gekippt worden war. Aber je näher es sich dem Flugzeug entgegenhob, je deutlicher die übereinandergeschichteten Wohngebiete aus der Tiefe ragten, die an den Hängen aufgestapelten Hochhäuser, ein dichtes beige- und rostfarbenes Aneinander aus Stein und Beton, dazwischen aber, zum Meer hin, die unzähligen Pfeile der Kirchtürme, die seit Jahrhunderten in den Abendhimmel zeigten, desto wilder regte sich in ihm das Gefühl, in Italien zu sein, ein archaisches Erschauern, das so alt sein muss wie die Menschheit, viel älter zumindest als Italien selbst, die Empfindung einer kurz vor der Erfüllung stehenden diffusen Sehnsucht, die, wie man weiß, oft nur wenige Augenblicke anhält. Den einen überkommt sie beim Hören einer besonders schönen Musik, den andern beim Abholen des lange bestellten Neuwagens oder auf lichtüberzuckter Waldanhöhe bei Gewitter. Tom Holler aber hatte sie in diesen Minuten beim Landeanflug über Genua, wo, während die Maschine hinabsank, die Seele, vielleicht aufgrund der Trägheitsgesetze, für einige wenige Minuten in der Luft hängen blieb.

SCHWIEGERELTERNSONNTAG

Ein Sonntag hatte seit den frühen Morgenstunden das gesamte neapolitanische Umland fest im Griff. Auf der Nordtangentiale, die die Stadt mit der Autobahn in Richtung Osten verbindet, stand dichter Ausflugsverkehr. In der Ferne war die Silhouette des Vesuv in einen Schal aus Dunst gehüllt, und der Himmel darüber wölbte sich blau, zerstochert über der Peripherie von Hochhaussilos und dem Geschling der aufsteigenden Betonschleifen, im Westen aber neigte er sich glatt und wolkenlos bis zum Meer hinab.

Gegen das Schweigen, das im Innenraum ihres alten VW-Polos immer lauter wurde, stellte Betty Morgenthal das Radio an. Aber kein Sender war störungsfrei zu finden, außer der lokalen Schlagerwelle. Neapolitanischer Diskopop mit seinen wie aus Plastik gegossenen, orientalisch gedrechselten Synthesizersounds. Sie kurbelte das Fenster herunter, legte ihren Arm in die Sonne und trommelte mit den Fingern den Takt auf dem erhitzten Blech. Frühlingswärme beugte sich ins Auto, strich ihnen über die Wangen und ergriff für keinen von beiden Partei.