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Alfredo zog sein Jackett aus, warf es nach hinten auf die Rückbank, atmete lauter als notwendig durch die Nase. Sein Mund, Betty sah ihn im Spiegel der Windschutzscheibe, war ein waagerechter Strich. Sie wusste, dass Alfredo eine Entschuldigung erwartete, einen Blick vielleicht oder wenigstens das Absenken der Stirn, begleitet von einem ratlosen Heben der Schultern, eine Berührung. Aber sie konnte ihm nichts dergleichen anbieten. Sie fürchtete, den Aggregatzustand zu verändern bei der kleinsten ungeeigneten Silbe und zu zerfließen. Schon das Frühstück war schweigend verlaufen, beide in einen anderen Teil der Zeitung vertieft, diesmal hatten sie sich nichts vorgelesen, lachend oder kopfschüttelnd, wie sie es sonst taten, zumal sonntags, sondern jeder hatte sich hinter sein Blatt zurückgezogen, Alfredo mit Lesebrille, die er seit kurzem brauchte, und senkrechten Furchen zwischen den tiefen Brauen, die erahnen ließen, wie er aussehen würde im Alter, das Betty an diesem Morgen auf einmal nicht besonders begehrenswert erschienen war.

Sie standen. Die Zeit aber strebte eilig an ihrem Auto vorbei. Bettys Blick tastete sich über die Windschutzscheibe, weg von Alfredos Strich, der früher einmal ein Mund gewesen war, wanderte jetzt über die kleinen und größeren Spritzer von Fliegendreck und versuchte sie zu verbinden, imaginäre Linien zu ziehen zwischen den einzelnen Punkten, eine sinnvolle Figur in den Insektendreck hineinzulesen, aber es gelang ihr nicht. Kein Sternbild, kein Diagramm, keine Landkarte wollte entstehen. Sie musste lächeln. Ein halber Seitenblick spaltete sich von ihr ab, glitt eigenmächtig zu Alfredo hinüber, der dies spürte, den Kopf in ihre Richtung wandte, aber die Lider senkte. Ihre Knie, unter dem geblümten Sonntagsrock, schienen das Äußerste zu sein, das er von ihr ansehen konnte.

«Wir sollten das Auto mal putzen«, sagte Betty.

«Wir sollten es nicht putzen, sondern verkaufen. Scheiß Autos«, murmelte er.

«Dann verkauf es doch«, sagte sie, Blick auf ihre Fingernägel, wo es außer Fingernägeln nichts zu sehen gab.

Er aber atmete nur tief durch die Nase, drückte sich mit geraden Armen vom Lenkrad weg tief in den Sitz.

«Gut«, sagte sie» gut, dann eben nicht«, und faltete die Arme fest vor ihrer Brust zusammen.

Als sie die Autobahn erreicht hatten, riss der Fahrtwind an Bettys Haaren, schleuderte die Spitzen um ihr Gesicht. Mehrmals strich sie sich das Haar hinter die Ohren, was sinnlos war, also schloss sie das Fenster. Die Nachrichten verkündeten Anschläge im Nahen Osten, Arbeitslosigkeit, Staatsverschuldung. Ein Kugelschreiber, der auf der Ablage lag, ratterte gegen eine Kassettenhülle. Eine dicke Fliege knisterte an der Windschutzscheibe, und seitlich schwappte Sonnenlicht über Bettys Beine, über Alfredos Hand, die auf der Gangschaltung lag, durchkreuzt von dunklen Linien, schattigen Flächen, Schatten von Reklameschildern, von Strommasten, die durch die viereckige Helligkeit des Autos wankten und zur Heckscheibe hinaus verschwanden.

Betty senkte die Sichtblende, setzte die Sonnenbrille auf und starrte mit getöntem Blick auf die Landschaft. Hügelland. Die ferne Bebauung erinnerte an Schafsherden, die sich auf den Wiesen zusammendrängten.

«Wir können es ja mal inserieren«, fing sie neu an,»und sehen, was wir noch dafür kriegen. «Besser als im Schweigen zu ertrinken, dachte sie, besser im Redebötchen sitzen, auch wenn es klein ist und schwankend.

«Was können wir?«, fragte Alfredo.

«Wir können das Auto inserieren.«

«Ich brauche das Auto«, sagte er.

«Wieso brauchst du es jetzt auf einmal wieder?«

«Weil ich es brauche, für meine Eltern, für die Arbeit.«

«Du gehst doch immer zu Fuß zur Arbeit. «Betty beobachtete die Fliege, die knisternd über die Windschutzscheibe taumelte und die Punkte miteinander zu verbinden schien.

«Ich muss manchmal in die Provinz, und dann brauche ich das Auto.«

«Für die beiden Male im Jahr kannst du dir auch eins leihen. «Flügelsurren.

«Ich brauche das Auto in erster Linie für meine Eltern, was soll denn das jetzt?«

«Na gut«, sagte sie und wunderte sich über den schrillen Ton ihrer Stimme,»dann hör aber auch auf, ständig über Autofahrer und die Scheiß-Autofahrer-Lobby zu meckern! Und über das Weltklima und die Luft in Neapel. Wer Auto fährt, ist Autofahrer und fertig.«

«Du kannst ja aussteigen.«

«Dann bleib stehen.«

Obwohl sie es nicht direkt wörtlich gemeint hatte, fuhr Alfredo bei nächster Gelegenheit auf einen Parkplatz, um anzuhalten. Betty, etwas verwirrt, ohne es sich aber anmerken zu lassen, strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr und stieg aus. Sie drehte dem Polo den Rücken zu, legte die Arme vor der Brust übereinander und wartete. Ein Sonnenstrahl fiel ihr in den Nacken und lief die Wirbelsäule hinunter. Das Zischen der vorüberfahrenden Autos zerriss die Vorfrühlingsluft. Ein sanfter Windhauch bemühte sich, einen leeren Pappbecher einige Zentimeter vor sich her zu schieben. Alfredo stellte den Motor ab. Betty beobachtete den Pappbecher, den der fleißige Wind bis zu ihrem Schuh getrieben hatte. So würde sie nun stehen können bis ans Ende der Zeit, bis ein trompetender Engel käme und sie an den Haaren in die Hölle zöge, du sollst nicht streiten. Ich streite nicht.

Ein Quietschen der Beifahrertür, die in der Halterung nachschwang.

«Betty«, Alfredos Stimme klang nicht wirklich herzlich.»Bitte, steig ein!«

Betty schlenkerte kurz mit ihrem Rückgrat, was ein entschiedenes» Nein «ausdrücken sollte, hielt sich wieder gerade und starrte über die verbauten Hügel, und die Hügel starrten zurück.

Alfredos Elternhaus stand direkt unter dem Himmel. Selbst heute hatte sie denken müssen, wie hübsch, nein, wie schön, wie sie es auch nach sieben Jahren jeden zweiten Sonntag nach wie vor dachte, wenn sie über diese holprigen Straßen zu ihren Schwiegereltern fuhren, die Hügel hinauf, an alten Steinmauern, hoch aufgetürmter Lava vorbei, unter ans Autodach kratzenden Oleanderbüschen hindurch, und in den engen Kurven hupen mussten, wenn nach jeder Biegung plötzlich das Meer erschien. Eine Vespa hustete den Berg herab, ausweichen, schalten, ein Ruckeln des Autos und dann Heulen des Motors, zur nächsten Kurve, und vor der Windschutzscheibe hing schwankend der Himmel, kippten schräg die Weinberge, und endlich das Dorf.

Wie immer parkten sie am Kirchplatz. Die letzten Meter stiegen sie zu Fuß über die schiefen Steintreppen hinauf, es gab keine Autos hier oben, scheinbar keine Zeit. Am Gartenzaun wartete der Schwiegervater, den halben Morgen schon, wie Betty annahm. Eventuell war er etwas hin und her gelaufen, eventuell hatte er ein paar Gartenkräuter für seine Frau gepflückt, die in der kleinen Küche Auberginen frittierte, vielleicht hatte er einen schweren dunkelgelben Ast des Zitronenbaums mit einer Holzstange abgestützt, hatte aber dabei das niedrige Gartentor nie aus den Augen gelassen, bis sie endlich aufgetaucht waren mit ihren Tüten und Taschen, den Besorgungen aus der Stadt. Der Schwiegervater, als sie einander begrüßten, versuchte, sich sein Warten nicht anmerken zu lassen. Betty, die schon unten auf dem Kirchplatz ihr Schwiegertochterlächeln herausgesucht hatte, lächelte beharrlich, während er ihr die Tüten abnahm und über den kleinen Steinplattenweg zum Haus voranging, im weißen Sonntagshemd, über das er eine graue Weste gezogen hatte. Noch immer war er größer als sein Sohn, die Schultern aber waren gebeugt, nach vorn geneigt der Kopf, der bei jedem Schritt ruckelte, als wären die Bewegungen zu heftig. Die Weste schlackerte lose über seinen Rücken hinab.

Die Schwiegermutter hatte ihre Ankunft zunächst überhört, weil die ganze Küche von Bratgeräuschen und Töpfeklappern erfüllt war. Auch noch im Alter war sie mädchenhaft zierlich und klein, aber als sie sich umdrehte, stützte sie sich schwer auf die Arbeitsplatte wegen ihres Hüftleidens. Mit kippendem Schritt kam sie auf die Kinder zu, wie sie sie nannte, umarmte sie beide, so dass Betty Alfredos Schulter, seine Seite spürte, die erste Berührung seit Tagen.