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Gegessen wurde auf der Terrasse, obwohl es noch kühl war, aber es gehe schon, sagte Bruno. Man saß unter dem Zitronenbaum, der seine Zweige fast bis auf den Tisch hinabließ, und schaute über die Hügel, das Meer tief unten. Alfredo sagte während des gesamten Essens fast nichts, dehnte sein Schweigen weiter aus, breitete es über die ganze Familie. Mariannas Augen gingen, nachdem die Schüsseln geleert waren, von Alfredo zu Betty und wieder zurück, als wollte sie sie mit diesem Blick verbinden und fest verschnüren, bis, wie immer, wenn die lang ersehnte Neuigkeit ausblieb und kein Enkelkind angekündigt wurde, ihre erwartungsvollen Gesichtszüge sanken, die Hoffnung aus ihrem Gesicht rutschte und es nackt und müde zurückließ.

Um sich diesen Anblick zu ersparen, verfolgte Betty seit längerem mit den Augen einen schwarzen Käfer, der auf dem karierten Tischtuch lief. Ziellos, aber mit der größten Geschäftigkeit eilte er zwischen den Tellern hin und her. Als er auf Bettys Gabel stieg, fiel er seitlich um und blieb auf dem Rücken liegen. Er spannte die Flügel auf, flatterte, strampelte mit den Beinen. Endlich nahm Betty die Gabel zur Hand und hob ihn vorsichtig wieder auf den Bauch. Sofort ging es eilig weiter, bis er abermals an einen Widerstand stieß, abermals auf den Rücken fiel. Betty nahm die Gabel. Als sie aber innehielt, um zu überlegen, ob der Mensch in die Natur eingreifen solle, ob er überhaupt je in das Naturgesetz der Grausamkeit korrigierend sich einmischen solle oder eher nicht, fiel der schiefe Schatten Mariannas mit der Tiramisu-Schüssel auf den Tisch, und die Schüssel landete direkt auf dem schwarzen Käfer.

«Dass es noch so viele Zitronen gibt«, sagte Betty zu Bruno, wiederholte es lauter, DASS ES NOCH SO VIELE ZITRO  NEN GIBT DIESES JAHR, weil Bruno auf dem linken, ihr zugewandten Ohr nur noch zu dreißig Prozent hörte. Bruno nickte stolz, dieses Jahr sei ein gutes Zitronenjahr, sagte er, und dass sie wieder eine ganze Kiste mitnehmen könnten (sie hatten aber noch eine fast volle vom letzten Mal, was sie ihm niemals verraten hätte). Sie nickte und lächelte in die schöne dunstige Ferne, wünschte sich, ihrem Blick hinterherzulaufen, in die erstbeste Richtung bis zum Horizont, als dunkler hüpfender Punkt irgendwo in der Weite zu verschwinden.

Die Tätigkeit des Abspülens mit Alfredo ermöglichte ein Aufatmen, weil endlich das Schwiegertochterlächeln in ihrem Gesicht gelockert werden konnte. Sie wusch Töpfe aus, die Alfredo, sorgenvoll aus dem Fenster oder in die Dunkelheit des Geschirrs blickend, abtrocknete. Allerdings toste nun aber dieses Schweigen immer lauter in ihren Ohren. Nur wenn Mariannas punktierte Schrittgeräusche in der Nähe waren, fielen Sätze wie:»Gibst du mir den Lappen, bitte «oder» hier die Schüssel«.

Halbseitig gelähmte Nachmittagsstunden. Gut zwei davon mussten überbrückt werden, bis zum Nachmittagskaffee, drei bis zur schweigenden Heimfahrt.

«Zeigst du mir den Garten«, fragte sie Bruno, wie sie ihn jeden zweiten Sonntag fragte, und in Brunos Gesicht ging das Licht an. Eingehakt bei ihrem Schwiegervater, wodurch sich das Schwanken seiner hohen Gestalt bei jedem Schritt auf sie übertrug, lief Betty durch das Grün der Oliven und Oleanderbüsche, spürte den sehnigen Arm, der immer ein bisschen dünner wurde im Zweiwochenabstand, und musste plötzlich mit einer Heftigkeit denken, dass sie ihn liebte, dass sie ihn bitte nicht verlieren wollte.

Hinter dem Haus, verkündete Bruno voll Stolz, habe er einiges verändert (wie er immer einiges veränderte auf Weisung Mariannas in diesem winzigen Garten, was tatsächlich eine Kunst war). Und zwar hatte er den Schuppen gestrichen, von Braun zu Beige diesmal, so dass der Schuppen irgendwann zu seiner Ausgangsfarbe zurückgelangen würde, wie auch das Arrangement der Pflanzkübel, der Werkzeuge, der Sitzmöbel über mehrere Stationen immer wieder an den Ausgangspunkt zurückkehren würde. Die Zeit, sie war eine Märklineisenbahn in diesem Garten, die Runde um Runde drehte auf ihrem Schienenoval. Seit Jahren aber stand unverändert der Sandkasten für die Enkelkinder, für den Fall eines Falles.

Bruno zeigte Betty ein weiteres neues Klettergerüst für den Wein, eine weitere neue Terrakottafigur aus einem Gartencenter, einen monströsen Hahn, an dem irgendein Stückchen herausgebrochen war, so dass sie ihn billiger bekommen hatten. Kein Mensch wusste, wie sie ihn hier heraufgeschleppt hatten. Betty bewunderte und bestaunte alles, ging mit Bruno den Prospekt eines anderen Gartencenters in der Provinz Avellino durch, nickte und bestaunte die Gegenstände, für die sich Marianna, halb belächelt von ihrem Mann, interessierte, Häschen und Hündchen und Kübel aus Ton und Terrakotta, die mit handschriftlichen zittrigen Häkchen versehen waren, weil interessant, weil eventuell zu kaufen.

Betty fragte sich, wo sie noch hinpassen sollten, diese rührenden Waffen gegen den Verfall, gegen den Tod, sagte aber, dass sie kommende Woche nachmittags Zeit habe. Dass sie mit dem Auto zum Gartencenter fahren könnten. Aber natürlich führen sie mit dem Auto, beharrte sie, als Bruno nicht mit dem Auto fahren wollte, um ihre Zeit, wie er sagte, nicht in Anspruch zu nehmen, sondern mit dem Bus, was aber überhaupt nicht, so Betty, in Frage kam.

Wer Dinge kauft, wer seinen Garten verändert, der stirbt nicht.

Noch lange standen sie nebeneinander, die Hände auf einem vom Licht aufgeheizten Steinmäuerchen, und schauten schweigend ins Land hinab. An der Horizontlinie stiegen langsam, direkt aus dem Meer, Schwaden auf. Das Himmelsblau verdickte sich, dunkelte ab, ein Wind schien aus dem Nichts zu kommen, urplötzlich. Also gingen sie, untergehakt, zum Haus zurück. Während sie im Wohnzimmer saßen und Sfogliatelle aßen, die Betty und Alfredo wie immer aus der Stadt mitgebracht hatten, beobachteten sie erste Regentropfen, die auf dem Terrassenboden zerbarsten. Die Glastür wurde klirrend an die Wand geschleudert, dann strömte Regen als ungeteilte Masse an den Fensterscheiben herab. Plötzlich bemerkte Betty den Blick Alfredos, spürte ihn wie einen Lufthauch an ihrer Wange, als sie mit der Gabel ein paar Krümel auf ihrem Teller zusammenstrich. Als suchte er etwas in ihrem Gesicht. Sie aber suchte nur die letzten Krümel zusammen.

GENUA

Das Hotel, das J. C. Hepp für das mare-Quartett gebucht hatte, war ein kleiner Jugendstilbau mit gläserner geschnörkelter Eingangstür, oberhalb von Treppenstufen, darin ein Rezeptionist mit vorwurfsvollem Gesicht, weil sie nicht zu acht waren, wie es in seinem rotsamtenen Reservierungsbuch stand, sondern zu zweit, was sich aber aufklären ließ, da sich die Kollegen urlaubshalber bereits in Italien befänden, wie Didi zunächst umständlich auf Italienisch und dann auf Englisch erklärte, und erst am nächsten Tag mit ihren Familien zu ihnen stoßen würden, und so stand es letztlich auch im rotsamtenen Reservierungsbuch.

Warum er eigentlich so wenig Gepäck habe, fragte Didi, als sie hintereinander die enge Treppe hinaufstiegen, Didi mit zwei Reisekoffern, Tom mit einer kleinen Umhängetasche, die er in der Eile mit ein paar unnützen Dingen vollgestopft hatte. Weil er nicht zum Packen gekommen sei, sagte er. Er war froh, als er in seinem Zimmer die Tür hinter sich zugeschlossen hatte.

Sofort warf er sich aufs Bett, ein Doppelbett, und da er sich nicht entscheiden konnte, auf welcher Seite er liegen wollte, legte er sich diagonal. Das ist der Vorteil des Alleinseins, dachte er, dass man sich nicht entscheiden muss. Er rauchte und schnippte die Asche in ein Porzellanschälchen auf seinem Nachttisch, in dem ein abgepacktes Stück Schokolade lag, das er später essen würde, worauf er sich freute. Ein Fernseher stand gegenüber an der Wand. Er schaltete ihn ein und sah Sophia Loren, wie sie mit einem Mann stritt, Hände in die Hüften gestemmt, dann wieder gestikulierend. Er stellte den Ton aus, hörte Rauschen von nebenan, weil Didi offensichtlich duschte, wie er immer sofort und überall duschte, hörte außerdem die gedämpfte Verkehrsbrandung von der Straße, die sich mit den Geräuschen des Wassers angenehm vermischte, und schon wurden seine Augenlider schwer, schnitten die obere Hälfte des Zimmers, des Fernsehers ab, nur die Hüften der Loren blieben übrig, Hüften mit Fäusten und seitlich ausgestreckten Ellbogen, bis er nur noch Rauschen hörte, weil die Loren duschte, mit üppigem Körper, beglänzt vom Wasserstrom, aber sie hatte Bettys Gesicht.