«Ja. Ich denke, ich habe alles«, sagte sie, aber sie zögerte, und ihr Gesicht wurde weich, schien an Tiefenschärfe zu verlieren, während sie ohne den geringsten Vorwurf ihm gegenüber (er nahm es erstaunt zur Kenntnis) mit ihren schlanken Fingern langsam über die Italien-Fotografie wischte, um den Staub zu entfernen.
«Weißt du noch, wie es hieß?«, wollte er fragen — die Fotografie war in irgendeinem August entstanden, da sie, während alle vernünftigen Menschen ans Meer fuhren, für eine Woche in einem glühenden Bergdorf nahe Bari gewesen und stundenlang verdorrte Hügel hinauf- und hinabgewandert waren —, aber da hatte sich ihr Gesicht schon wieder geschärft, und er ließ es sein. (»Nie tust du etwas!«) Er überlegte nur, wo all die Zeit hingekommen war, und Hedda sagte:»Ja, ich glaube, das war’s tatsächlich.«
Als sie, ohne seine Hilfe in Anspruch zu nehmen, gegangen war, erschien ihm die Schneekugelstille vollkommen. Ins Schlafzimmer floss etwas Straßenlicht und beleuchtete das helle Viereck, das von einem der fehlenden Gegenstände, einem Bilderrahmen, an der Wand hinterlassen worden war. Das Viereck erstaunte ihn. Auch erstaunte ihn, dass Hedda im Unterschied zu ihm selbst immer genau gewusst zu haben schien, was wem gehörte, dass sie die Umrisslinien, die Grenzen ihrer Gegenstände und ihrer Person, auch nach sieben Jahren des Zusammenlebens noch in voller Deutlichkeit wahrnahm, während er selbst das Gefühl hatte, die Konturen aller Dinge seien längst verschwommen, ineinandergelaufen wie auf einem dilettantischen Aquarell, der Tisch, das Sofa, Ich, Du, ein schmutziger ausufernder Farbfleck.
Als wüsste er endlich, was zu tun sei, ging er in sein Arbeitszimmer hinüber, wo seit Wochen nicht gearbeitet, sondern höchstens ferngesehen wurde. Er setzte sich an seinen Tisch, grub aus einem Papierhaufen ein zerknülltes Notenblatt und strich es glatt. Auf seinem Schreibtisch lag seit längerem ein Buch,»Geschichte der Erdzeitalter«, das er sich irgendwann gekauft hatte. Ich hätte es vielleicht doch zu Ende lesen sollen, dachte er.»Liebe Hedda«, schrieb er. Die Spitze des Bleistifts zerkratzte die Stille.»Du wunderst dich sicher, einen Brief von mir zu finden«, schrieb er,»aber du kannst ihn ja wegwerfen. «Er hielt inne, zündete sich eine Zigarette an und beobachtete den Rauch, der in langsamen Schnörkeln zur Decke stieg und sich auflöste. Sieben Ehejahre, überlegte er, der Unermesslichkeit der Erdzeitalter gegenübergestellt, werden sich zu letzteren verhalten ungefähr wie eine einzige Viertelnote zum Werk aller Komponisten, die zweit-, dritt- und die viertklassigen eingerechnet.
Am nächsten Morgen, nachdem er aufgestanden war, sich rasiert und sorgfältig angezogen hatte — gebügeltes weißes Hemd, denn im gebügelten weißen Hemd hatte er Hedda gefallen, einigermaßen zumindest, sogar noch zuletzt —, warf er den Brief, den er mit» Dein Thomas «unterzeichnet und in ein altes Sparkassenkuvert gesteckt hatte, in ihren nagelneuen Briefkasten, auf dem nicht Hedda Groning-Holler, sondern bloß wieder Groning stand.
Er grüßte einige Arbeiter in Heddas Hinterhof (»Creative-Village-Loftwohnungen «war hier auf einem riesigen Bauplakat zu lesen), die, pfeifend, bedächtig herumgingen. Er sah ihre Gesichter genauer, als er es wollte. Sie aber nahmen kaum Notiz von ihm.
Zu Hause machte er Ordnung. Er räumte auf, warf den Müll fort oder das, was er dafür hielt. Er putzte, entfernte sogar die in der Heizungsluft vibrierenden Spinnweben an den Möbelabdrücken, was Hedda erfreuen würde, und immer wieder sagte er sich, dass er es ihr nicht verdenken könne, wenn sie nur mehr wieder Groning hieß, schon jetzt, wie es auf ihrem Briefkastenschild zu lesen gewesen war, auch wenn es nicht — noch nicht — ganz der Wahrheit entsprach, aber er konnte es verstehen.
Das Bad sparte er aus. Es überstieg nun doch seine Kraft.
In der Küche füllte er ein Glas mit Leitungswasser. Er trank es in einem Zug aus. Wieder füllte er das Glas und goss eine Pflanze, die seit Jahren auf dem Fensterbrett stand, einen Rosmarinstock, von Hedda vergessen und vertrocknet. Er füllte das Glas ein letztes Mal und ging damit in sein Arbeitszimmer, wo er die Schreibtischschublade öffnete und ein Döschen herauszog und die darin aufbewahrten Tabletten ins Glas schüttete, bevor er es sorgfältig wieder verschloss und in die Schublade zurücklegte. Er konnte auch ordentlich sein, wenn er wollte.
Mit dem Interesse eines Chemikers beobachtete er, wie die Pillen sich auflösten. Sorgsam trug er das Glas vor sich her und ging zu seinem Flügel. Aber er spielte nicht, sondern sah in das Glas, das vor ihm auf der dunklen Holzfläche stand. Er wartete, dass sich alles vollständig auflöste, während der Name des italienischen Wüstendorfes sich in seinem Gedächtnis immer mehr verdichtete und plötzlich deutlich hervortrat: Monticchio.
DER VEREHRER
Betty Morgenthal hatte einen Verehrer. Er war jung, kaum dreißig, Assistenzarzt am Poliklinikum Neapel, und er hatte sie, am Kreis der interessierten Krankenschwestern vorbei, erwählt mit der Zielstrebigkeit eines abgeschossenen Pfeils. Nur flog dieser langsam, und sie eilte langsam vor ihm davon. Im Operationssaal, wo ein Weglaufen nicht denkbar war, verbarg sich Anästhesistin Morgenthal hinter dem Schutzschild des senkrecht gespannten grünen Tuches, um ihrer vom Piepsen der Monitore und Pumpen der Beatmungsmaschine geordneten Arbeit ungestört nachzugehen.
Carlo Vitelli, den sie in Gedanken immer beim Vor- und beim Zunamen nannte, obwohl man sich eigentlich duzte, bestand nicht nur im OP, sondern auch sonst hauptsächlich aus Augen. Sie taten sich vor Betty Morgenthal auf wie ein Abgrund, was sie aber nicht davon abhielt, an Vitellis Tiefgründigkeit zu zweifeln. Wenn sie einander in einem der Korridore des Poliklinikums begegneten, lächelte sie unverbindlich, fixierte etwas weit Entferntes und zog mit ihrem lautlosen Anästhesistinnengang an ihm vorbei. Sie wusste, seine Liebe würde vergehen. Der Pfeil des Begehrens würde mitten im Flug abstürzen oder noch abgelenkt werden von einer Medizinstudentin aus besserem Hause oder einer ärztesammelnden Schwesternschülerin. Wenn sie etwas gelernt hatte bisher in ihrem Leben, dann zweierlei: Überprüfe immer und unter allen Umständen den Sitz des Beatmungstubus, und — eine Weisheit, die ihr schon die Tübinger Großmutter mitgegeben hatte —:»Kommt’s allein, geht’s allein.«
Betty Morgenthal hatte auch einen Ehemann.
Morgens beim Frühstück, wenn sie Alfredo gegenübersaß, der redete und Kaffee eingoss und sich mit der Hand vom rechten zum linken Ohr hin über den Kopf strich, wo er sich nachdenklich kratzte, dann weitersprach, ohne aber weiterzuessen, zurückgelehnt plötzlich, als wäre ihm vor Aufregung der Appetit vergangen, denn er referierte über nichts Geringeres als den kommenden Weltkommunismus, der alle Menschen gleichermaßen zu Dante-Lesern machen würde, und zwar alle, die Putzfrau und auch den Drogenabhängigen, weil es einfach das gute Recht aller Menschen und nicht einiger weniger sei, Dante zu lesen etc., und wenn sie dann lächelnd in ihr Müsli hinabschaute, auf die Rosinen, die Apfelstückchen, die Bananenscheiben in Milch, die sich langsam braun verfärbten, stellte sie sich manchmal vor, wie sie mit ihm, ihrem Ehemann, in dreißig oder vierzig Jahren an diesem Frühstückstisch säße und er spräche über Dante und sie schaute ins Müsli hinab, und dann geschah es, dass sie dieses Bild nicht nur nicht ängstigte, sondern, im Gegenteil, dass sie es in Realität herbeiwünschte, und zwar sofort.
«Woran denkst du? Betty?«, fragte er dann.
«An nichts, an uns«, sagte sie.
Alfredo Sandri, der nicht nur die deutsche Literatur, das deutschsprachige Theater, sondern auch das deutsche Frühstück liebte —»Goethe, Musil, Müsli«—, wie er Betty schon in der Stunde ihres Kennenlernens mit vor der Brust gefalteten Händen eröffnet hatte, Alfredo war, nachdem er wie jeden Tag den Frühstückstisch gedeckt hatte, an einem frühlingswarmen Wintermorgen auf den an die Küche angrenzenden kleinen Balkon hinausgetreten, um auf seine Frau zu warten. Seine Kiefermuskeln arbeiteten, als wären sie daran beteiligt, zähe Gedanken zu zerkauen. Betty, etwas größer als er, trat auf ihn zu, umfasste ihn von hinten und blickte an seiner Wange vorbei auf ein Geschachtel von Dächern alter Palazzi, vielstöckiger beigefarbener Mietshäuser, Antennengeflecht. Nur wenn man sich weit über das Geländer hinauslehnte und den Kopf scharf nach rechts wandte, sah man das fern in der Tiefe wie zähflüssig liegende Meer. Alfredo beugte sich vor, tat, als fiele er, fielen sie beide vom hohen Balkon, sie lachten. Man sehe hier, sagte er, bereits wieder ernst, von oben auf alles herab, obgleich man nichts sehe. Mit schmalen Augen blickte er gegen das Licht. Ein feiner Strahlenkranz von Falten wies in Richtung Haaransatz, wo schon ein Anflug lag von Grau, das noch nicht zu diesem Gesicht passte, wie für einen Film hineingefärbt wirkte.»Ich mag diese Aussicht nicht. Ich mochte sie nie.«