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Sie aßen in einer Pizzeria zu Abend (»Pizza Vierjahreszeiten«, bei deren Bestellung sich Diedrich seinen uralten Deutschenwitz» Vier Bahnhöfe / Quattro Stazioni «statt» Quattro Stagioni «zwinkernd zu sagen, nicht verkneifen konnte, was der Kellner erst nach wiederholter Erklärung verstand und offenbar nicht besonders komisch fand) und liefen danach, auf der Suche nach einer Kneipe, durch die dunkle, hohe, kaum beleuchtete Altstadt. Didi hatte sich wieder tief in den Stadtplan gebeugt (er war schwach fehlsichtig, hätte aus ästhetischen Gründen aber niemals eine Brille aufgesetzt, weswegen ihm Tom ab und zu einen Straßennamen vorlesen musste), obwohl sie, wie er dachte, doch gar kein definiertes Ziel hatten, und er wunderte sich über die Menschen, die bei jedem Schritt, den sie machten, wissen wollten, wohin sie gingen.

Endlich saß man in einer Kneipe. Diese war einem irischen Pub nachempfunden. Tom hatte das Gefühl, viel Bier trinken zu müssen. Didi führte ein Gespräch. Ob J. C. H. (er sprach es englisch) ihn inzwischen erreicht habe, wollte er wissen, und der werde sich schon wieder beruhigen, habe sich bisher immer wieder beruhigt. Auf der Tanzfläche hopste ein jugendliches Publikum zu dröhnenden Bässen herum. Eine Unterhaltung wurde zunehmend erschwert, so dass Tom nur einen Teil hörte von dem, was sein Kollege redete. So eine» Kreativpause«, hörte er, drei Monate, tue richtig gut, um auf andere Gedanken zu kommen. Andere Gedanken, ja, dachte Tom, aber: was für welche. Und was er überhaupt die ganze Zeit gemacht habe.

«Nichts«, sagte Tom zu Diedrich, nachdem er ihn lange, scheinbar nachdenklich, angesehen hatte.

«Nichts?«Diedrich lachte, er glaubte ihm nicht.»Irgendwas musst du doch gemacht haben?!«

Tom zuckte mit den Schultern,»Nichts«, sagte er,»das heißt, gelebt halt, geatmet, gegessen, geschissen und so weiter. «Und sein Kollege lachte wieder, schüttelte wiederholt den Kopf, und die Locken sprangen um sein Gesicht, während er lachend in das vor ihm stehende Bierglas hineinschaute und tat, als wäre Tom ein Komiker.

Der hingegen, weit davon entfernt, komisch zu sein, brauchte ein Telefon. Auf dem Zimmertelefon im Hotel nämlich konnte man nur angerufen werden, worauf er gut und gerne hätte verzichten können, sein Handyakku war seit Wochen leer, und er hatte sein Aufladegerät vergessen. Diedrich würde er nicht fragen. Diedrichs Scheinwerferaugen sondierten inzwischen hell und genau den näheren Umkreis, tasteten alles Weibliche ab.

Er müsse mal raus, sagte Holler.

Didi fältelte die Stirn, aber Holler war schon aufgestanden. Nacht umschloss ihn mit einer transparenten Schicht, die dichter und dunkler wurde, sobald er sich vom Pub entfernte und in ein schmaleres Seitensträßchen tauchte. Die Glut seiner Zigarette wies ihm den Weg. An einer Häuserecke wartete ein Grüppchen Jugendlicher mit Vespas auf die Zukunft. Holler lief und lief, ohne jemals an einer Telefonzelle vorbeizukommen. Er überquerte steinerne Plätze mit tosenden Brunnen unter den Leuchtreklamen, fädelte sich wieder in die Schwärze enger Gässchen, ging hallenden Schrittes unter Arkadengängen, wo Wolken von Stimmengewirr und Kaffeegeruch aus kleinen Bars trieben. Er genoss das Gefühl, fremd zu sein in dieser Stadt. Gab sich der Illusion hin, ganz neu anfangen zu können, und doch hatte er das Gefühl, mit jedem Schritt, den er in die Tiefen dieser dunklen Stadt setzte, weiter in die verschachtelten Räume seiner eigenen Vergangenheit hinabzusteigen.

Ich muss jemanden fragen, dachte er, und noch bevor sein Gedanke zu Ende war, fragte er, indem er sich über seine Kurzentschlossenheit sehr wunderte, einen Geschäftsmann mit Mantel und Aktenkoffer und einer bedeutend jüngeren Begleiterin, der sein Anliegen offenbar peinlich war, so dass sie den Blick wandte.»Direction of the Sea«, sagte der Geschäftsmann, dort gebe es Telefone, eines neben dem andern, in kleinen Läden von Marokkanern, von Arabern, die auch von etwas leben müssten, fügte der Geschäftsmann entschuldigend hinzu.»Danke«, sagte Holler, fast überschwänglich,»vielen Dank«, wiederholte er, als hätte der Geschäftsmensch ihm seine Begleiterin überlassen, und er lief einige Schritte rückwärts, bevor er sich umwandte und endlich in Richtung Meer ging, wo Betty Morgenthal saß, Marcs schöne Freundin, mit sandfarbenem Blick, und auf seinen Anruf wartete.

Auf dem Weg zum Meer aber dachte er an Marc. Wie er immer an Marc gedacht hatte, wenn seine Gedanken sich bei Morgenthal aufgehalten hatten. Immer hatten die Gedanken einen Umweg über Baldur gemacht, wenn sie zu Morgenthal unterwegs gewesen waren.

Er hatte ihn, mehr oder weniger zufällig, in einem Mietwagen kennengelernt. In einem nagelneuen Kleintransporter der Firma Europcar oder Sixt, Holler konnte sich nicht erinnern. An das Wesentliche hingegen meinte er, sich immer erinnern zu können. Was aber genau ist es, dieses Wesentliche im Gewesenen? Ist es wesentlicher, sich an Marc zu erinnern, Marc Baldur beispielsweise im dunklen Anzug neben ihm, in der Hand einen Kaffeebecher, dessen Inhalt schwappte und kreiste am hellen Papprand, beim Anfahren des Wagens, ist dies wesentlicher als der Name des Autoverleihers? Marcs bleiches Gesicht vor der spiegelnden Fensterscheibe, dahinter die wegeilende Stadt, Schilder und Ampeln und Beleuchtungen, deren wässrige Farben sich in der Weite verloren. Marcs Knie, die spitz sich abzeichneten unter dem Anzugstoff und die, weil seine Beine so lang waren, an den Vordersitz stießen?

Wer hatte vorn gesessen? Holler konnte sich nicht erinnern. Nicht einmal daran, wer außer ihnen im Auto gewesen war, auf dem Weg zu ihrem ersten gemeinsamen Auftritt. Er blieb stehen, Hände in den Taschen, Zigarette im Mundwinkel. Die Nacht überwölbte ihn.

«Wo sind die Dinge, an die wir uns nicht mehr erinnern?«, hatte Marc ihn vor langer Zeit gefragt, während Schnee im Licht der Autoscheinwerfer wirbelte. Wo sind die, an die wir uns erinnern? dachte Tom. Er hatte oft darüber nachgedacht. Sie waren da und doch nicht, wie das bewegte Bild einer Landschaft im Spiegel eines Gewässers oder das Farbspektrum eines Regenbogens oder die Schatten der Dinge, die je nach Lichteinfall Form und Position veränderten. Eine vergilbte und im untersten Dunkel der Schublade vergessene Eintrittskarte, die man beim Aufräumen herausnehmen und ansehen und mit den Fingern greifen konnte, war die Erinnerung jedenfalls nicht. Und doch kam es ihm oft so vor, als träten die erinnerten Personen, Gegenstände, Gerüche, all die verinnerten, verinnerlichten Dinge, plastisch aus dem Hintergrund der Vergangenheit heraus und als könnte er sie ergreifen (auch die Gerüche) wie eben jene vergilbte Eintrittskarte in der vermüllten Schublade (derer es bei ihm zu Hause viele gab).

Es war dies vor allem Marc, der heraustrat. Dessen Gesichtslinien auch nach Jahren nicht verblassten und unter dem Weichzeichner des Vergessens sich verallgemeinerten, sondern mit jeder Unebenheit, jeder Schattierung, jeder Farbnuance da waren. Es war, als wohnte er in seinem Gedächtnis in vielen verschiedenen Versionen wie die beliebte Barbiepuppe im Spielzeugladen, die in unzähligen Outfits vorhanden, aber doch immer dieselbe ist, und einer derjenigen Marcs, die besonders oft hervortraten aus der Tiefe der Zeit, war der Kaffee-Becher-Marc im Auto. Eingezwängt mit seinem langen schmalen Körper in die nach fabrikneuem Kunststoff riechende Enge des Mietwagens. Sein helles Profil von der Seite, überzuckt von den vorübereilenden Lichtern und Schatten, Augenbrauen, die sich einzeln in die Stirn hoben, eine Eigenheit, die oft als Ausdruck seiner Arroganz ausgelegt wurde, auch weil seine Begabung, seine Einzelgängerei solches vermuten ließen.

«Kannst du mal halten, bitte?«Seine ersten Worte.

Der Pappbecher, den Marc ihm gereicht hatte, war heißer gewesen als erwartet, und sein Rand hatte sich weich in Toms Hand verformt. Kaffeedampf hatte in die noch kühle Luft dünne Linien gezeichnet, während Marc sich das Jackett auszog, was schwierig war aufgrund der ihn einschließenden Enge. Tom erinnerte sich sehr, dass er selbst gerne einen Schluck Kaffee genommen hätte, sich aber nicht zu fragen traute. Er kannte niemanden, weder Marc noch die anderen Insassen des Fahrzeugs, obgleich sie an derselben Hochschule (Hanns Eisler) studierten, aber Tom war niemand, der viele Leute kannte. Seit seiner Kindheit hatte er Bekanntschaften als Anstrengung empfunden.