Das Steven-Taylor-Quartett oder das Harry-Miller-Quartett (Jazzquartette, zumal ostdeutsche, benannten sich mit Vorliebe nach dem Bandleader, indem sie dessen Namen ins Englische übertrugen, was einfach besser klang als Steffen Schneider oder Harald Müller) war auf dem Weg zu einem Dienstleistungsauftritt in einem Einkaufszentrum irgendwo in der brandenburgischen Provinz, und weil ihnen der Pianist abgesprungen war, hatte man Tom gefragt, so wie immer wieder mal eine Band bei ihm anfragte, wenn ein Pianist absprang und man für einen mäßig bezahlten Dienstleistungsauftritt in irgendeinem Autohaus, auf einer Hochzeit oder bei den Delikatessen-Wochen einer Lebensmittelkette einen kurzfristigen Ersatz brauchte.
Erst später erfuhr er, dass auch Marc nicht dazugehörte, dass auch er eine Zweitbesetzung, eine Notlösung war, dass er Kontrabass nur zum Vergnügen spielte, wie er es nannte, eigentlich an der Berliner HdK Komposition studierte.
Nachdem sich Marc aus seinem Jackett gequält hatte, strich er sich mit einer schnellen Bewegung das Haar aus der Stirn. Hellblond, weich, es reichte bis auf die Schultern, und Tom, während er den Kaffee hielt und aus dem Augenwinkel Marcs Spiegelbild in der Scheibe betrachtete, wunderte sich über die Spannung, die in diesem hellen Gesicht lag, als widersprächen die vom wechselnden Licht scharf gezeichneten Gesichtszüge ständig den großen sanftblauen Augen.
Als das Auto mit einem Ruck anfuhr, öffnete Tom die Hand, ließ den Becher fallen, und der Kaffee ergoss sich über Marcs weißes Hemd, schwappte über Hüfte und Bein, auch auf Toms dunkelblaue Anzughose, heiße Flecken, die auf dem Oberschenkel brannten. Monate später, als eine aufgeblasene rote Sonne hinter Mauerpark und Weddinger Mietskasernen langsam versank, fragte Marc ihn, Blick auf den Sonnenballon, warum er es getan habe, aber er konnte es nicht beantworten, es war ein Reflex gewesen, er hatte irgendetwas in seinem Leben ändern wollen.
Marc, im Auto, hob erstaunt die Augenbrauen, bevor er zu lachen begann, bis auch Tom lachte, zunächst aus Verlegenheit, später, weil er es wirklich lustig fand, tatsächlich immer lustiger, und den Rest der Fahrt schwiegen sie wieder, blickten aus den Fenstern auf die Stadt, die sich mehr und mehr ins Land duckte, sich in Vorstadtzersiedelung verlor, durchtrennt von Feldern, von Strommasten, Industrieparks, deren Lichter in die blaue Dämmerung des Himmels stachen.
Scharfer Wind wehte, als sie beim Einkaufszentrum ausstiegen. Büschel von Luftballons knallten an Aluminiumträger, Fähnchen flatterten. Die Veranstalterin oder Agenturbeauftragte oder Filialleiterin, ein dickes Fräulein mit schlecht lackierten Fingernägeln und billigem schwarzen Kostüm, nahm sie in Empfang. Sie seien etwas spät. Sie möchten bitte sofort aufbauen, bei der Käsetheke im Untergeschoss, bitte, dort sei die Bühne aufgestellt. Als sie neben ihr herliefen, das dauergewellte Haar des Fräuleins wurde von einem Windstrom fast glattgebürstet, fiel ihr Blick auf Marcs Hemd, aber da hatten sie auch schon die gläserne Drehtür erreicht.
Auf der Bühne, die mit einem grünen Grasteppich ausgelegt war, standen vier Kunstbuchsbäume, außerdem einige griechische Säulen aus Plastik, die an Italien erinnern sollten, denn Italien war das Motto des Abends. Auch die italienischen Fähnchen, die italienischen Kräcker auf den Stehtischen und der rotweißgrün gekleidete Stelzenläufer trugen dazu bei, dass die Lebensmittelabteilung im Untergeschoss des Kaufhauses Italien zum Verwechseln ähnelte, nur war eine italienische Band offenbar nicht zu finden oder für einen erschwinglichen Preis zu haben gewesen, weshalb sich die Frank-Miller-Jazz-Band hatte vertraglich verpflichten müssen, wenigstens» Azzurro «und» Volare «ins Programm aufzunehmen.
«Ich bin übrigens Marc«, sagte Marc und streckte ihm die Hand entgegen, als sie rauchend im Hof standen, zwischen Lieferwagen und Containern, und den Mond betrachteten, der wie ein halber Perlmuttknopf im Himmel steckte und ein stilles Licht verströmte.
«Entschuldige wegen des Kaffees«, sagte Tom.
«Macht nichts, sieht viel besser aus so. «Marc deutete auf sein Hemd, kniff die Augen zusammen, und während er den Rauch in einer dünnen Linie in die Nacht blies, lächelte er.
«Volare «und» Azzurro «spielten sie jeweils sechs Mal an diesem Abend, denn diese beiden Titel waren die einzigen, die dem Publikum wahrnehmbare Reaktionen entlockten. Mit steigendem Alkoholkonsum wurde auch vereinzelt in die Hände geklatscht. Ob man» Volare «und» Azzurro «tatsächlich gut fand, war schwer zu sagen, wahrscheinlicher war, dass man das Bekannte hochschätzte, weil dieses ein Heimatgefühl herstellte, ein frohes Wiedererkennen, wie die McDonald’s-Filiale mitten im Dschungel.
Höchste Priorität aber besaß an diesem italienischen Abend das Buffet, weil es im Eintrittspreis inbegriffen war und man es im Bauch nach Hause tragen konnte, während die Musik noch im Klingen verklingt und vergeht.
Für die Musiker allerdings war kein Catering vorgesehen, da dies zu verlangen Richie Miller, der Bandleader, bei den Vertragsverhandlungen versäumt hatte. Tom und Marc zogen sich deshalb in den Setpausen zwischen die Regalwände zurück, um sich vom Süßigkeiten-, Chips- und Alkoholsortiment zu nähren, was natürlich strengstens verboten war. Sie fühlten sich sehr subversiv.
«Warum machen wir das hier eigentlich?«, sagte unvermittelt und kaum verständlich Tom, der sich kurz vorher eine Handvoll Erdnussflips in den Mund gedrückt hatte.
«Was meinst du?«, fragte Marc.»Essen?«Er hielt eine leere Chipstüte über seinen Kopf und fing die letzten Krümel mit dem Mund auf.»Um uns zu erhalten, um nicht zu sterben, nehme ich an.«
«Musik!«, sagte Tom kauend.
«Ach so, Musik«, sagte Marc und hob eine Augenbraue. Er zerknüllte die Chipstüte, betrachtete sie noch immer mit erhobener Braue, zuckte die Schultern, als hätte er sich diese Frage noch nie gestellt.»Um Frauen kennenzulernen, schätz’ ich«, sagte er und nahm einen Schluck Champagner.
«Hast du denn heute irgendwelche kennengelernt?«, fragte Tom.
«Bis jetzt nicht. «Marc lächelte.
«Also dann? Warum? Um unsere Eltern zu ärgern? Um uns selber zu ärgern? Um unser Leben lang kostenlos Chips fressen zu können?«
Marc lachte.»Ich weiß es nicht«, sagte er, strich sich das Haar aus der Stirn, und dann änderte sich auf seinem Gesicht die Lichtstimmung, es verdunkelte sich, und hinter seinen Pupillen zogen wechselnde Gedanken wie Wolken schnell dahin, bevor er sagte:»Doch, natürlich weiß ich es: Um mit dem Ganzen hier«, er machte eine kleine Geste mit der Hand, indem er sie einmal umdrehte, so dass die Handinnenfläche nach oben wies, als wollte er prüfen, ob es regnete,»um mit allem hier, mit dem Ganzen hier, möglichst wenig zu tun zu haben. «Er hob die Schultern.»Um zwischen den Regalen sitzen zu können, um übersehen zu werden, weil Musiker«, so Marc, jetzt wieder lächelnd, mit wolkenlosen Augen,»machen nirgends mit, sie spielen auf Hochzeiten, aber sie heiraten nicht, sie spielen in Einkaufscentern, aber sie kaufen nicht.«
«Aha«, sagte Tom und lachte.»Sie spielen auf Beerdigungen und sterben nicht, oder was?«
«Ja«, sagte Marc. Er sah ihn an, als würde er ihn plötzlich wiedererkennen.
An diesem Abend tranken sie auf die Unsterblichkeit mit einem 1987er Moët & Chandon.
«Es gibt übrigens noch einen anderen Grund«, sagte Marc, als sie an der Grenze zwischen Nacht und Tag in seiner Weddinger Einzimmerwohnung saßen, durch deren niedrige Fenster schon der graue Morgenhimmel hereinfiel. Das elektrische Deckenlicht war unnötig geworden, brannte aber noch.