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«Die Zeit ist weg für einen Moment«, sagte er.»Nicht so sehr beim Musikmachen, aber beim Musikdenken«, fuhr er fort. Habe man eine Musik ganz im Kopf, eine Sinfonie oder Sonate, ein Lied, sagte er, wenn alle Takte gleichzeitig, sozusagen räumlich vor einem stünden, einer neben dem andern, dann existiere für diesen Moment keine Zeit.»Man überlistet die Zeit, indem man sie sich auf einmal vergegenwärtigt.«

«Also brauchst du den hier gar nicht?«, sagte Tom, der an Marcs Flügel saß und mit andächtig geschlossenen Augen einen Dominantseptakkord, den Tristanakkord, in verschiedenen Lagen erklingen ließ. Sie hatten die große Plattensammlung des Gastgebers durchsucht, waren nach Johnny Cash bei Wagner hängen geblieben, obwohl Marc Wagner hasste, wie er sagte, ihn heute so sehr hasste, wie er ihn früher einmal geliebt hatte, als Kind, als er sich am Bayreuther Festspielhaus, in dessen Nachbarschaft er aufgewachsen war, tagelang, wochenlang, die Beine in den Bauch gestanden hatte, wie er sagte, nur um einen einzigen Ton aufzufangen, indes die glatzköpfige oder dauergelockte, aber leider taube, durch irgendeine vermeintliche Wichtigkeit dorthin gezwungene Hörerschaft, die eigentlich eine Nichthörerschaft gewesen sei, drinnen schnarchte.

Der Flügel nahm fast das ganze Viereck des winzigen Zimmers ein. Um ihn herum standen leere Bierflaschen über den Teppichboden verteilt.

«Theoretisch kannst du ihn haben«, sagte Marc. Er saß auf seinem Bett, hatte die Ellbogen auf die Knie gestützt, das Kinn in die Handflächen gelegt. Zwischen Mittel- und Ringfinger klemmte eine selbstgedrehte erloschene Zigarette, die er offensichtlich vergessen hatte. Er blickte, während er redete, mit zusammengekniffenen Augen auf einen unsichtbaren Punkt, der gleichzeitig in der Mitte des Zimmers und weit dahinter zu liegen schien. Sobald man Musik zum Klingen bringe, sagte er, sei man wieder in der Zeit. Sei Teil der Zeit, die einen mitnehme, im wahrsten Sinn des Wortes, und nur wenn man Musik auf einmal denke, wie ein Gemälde oder eine Statue, stehe sie, stehe man selber, außerhalb.

«Es ist«, sagte er und blickte zu Tom am Klavier hinüber,»es ist, als ob du einen ICE nimmst und für einen Moment neben die Gleise stellst. «Er lächelte und schloss die Augen, als hätte er für immer alles gesagt. Er hörte oder er schlief, das Kinn in die Handflächen gebettet, während Tom weiterspielte und Sehnsuchts- und Liebesmotiv modulierte und darüber phantasierte und die Harmonieverbindungen wirklich an ihm vorüberflogen wie die Zeit und die Landschaften bei einer Zugfahrt, Berge und Meer und einige Jahrhunderte, bevor er, verlegen fast, als hätte man ihn bei einer sehr geheimen Tätigkeit ertappt, die Hände, die das angerichtet hatten, in den Schoß legte und vorwurfsvoll ansah. Er wusste gar nicht, wie lang er gespielt hatte. Marc aber hielt noch immer die Augen geschlossen.

«Er passt zu dir«, sagte er plötzlich.»Wer weiß, vielleicht schenke ich ihn dir mal.«

TAG ZWEI

War das schon Freundschaft? Tag eins ihrer Freundschaft, oder eher eine Vorstufe davon, ein diffuses Gefühl der Sympathie, weil schließlich Freundschaft, wie er annahm, nicht wie eine Blume, exotische Riesenblüte, im Zeitraffer aus dem Wüstenboden der Einsamkeit explodierte, sondern sich wie die Musik entlang der Zeit entwickelte, auf das Vergehen der Zeit angewiesen war in der Art eines Langstreckenläufers? Denn ohne Zeit keine Laufwettbewerbe, ohne Zeit kein Pflanzenwachstum, ohne Zeit keine Freundschaft, ohne Zeit kein gar nichts, wie er annahm, aber er war sich nicht sicher.

Er stand in Genua, in tiefer Gassenschlucht, rauchend, während die Nacht ihn überwölbte und all die Gedanken an Marc, an das Einkaufszentrum, an die Zeit, an die Freundschaft, in wenigen Minuten, scheinbar unbeeinflusst von ihm selbst durch seinen Kopf zogen. Als er weiterging, in Richtung Meer, versuchte er, die Gedanken bewusster zu setzen, sie zu steuern wie seine Schritte. Er war sich heute wie damals, dachte er, nicht sicher, ob es eine Freundschaft auf den ersten Blick gab. Er war kein Freundschaftsexperte, hatte vor Marc eigentlich nie einen Freund besessen, wenn überhaupt, waren es mehrere Freunde gewesen, sogenannte» Cliquen«, mit denen man im Halbkreis auf dem Schulhof herumstand und heimlich rauchte oder abends in Bushäuschen saß, Bier trinkend, Wein aus Tetrapak-Kartons. Er selbst hatte sich immer etwas abseits aufgehalten, war zu diesen Treffen mehr aus Pflichtbewusstsein erschienen, weil, so hatte er gedacht, diese Treffen, die man absolvierte, zum Leben dazugehörten wie die Schule, die man ebenso absolvierte, kein Mensch wusste, warum, oder allabendliches Zähneputzen, sonntägliche Kaffeebesuche bei Verwandten.

Zu Hause gefühlt hatte er sich nicht im Halbkreis der Schulfreunde, was er keineswegs als Mangel empfand, da er sich nirgends zu Hause fühlte, am wenigsten zu Hause, außer in seiner Dachkammer, wo das Klavier stand, als zufälliger Fremdkörper in diesem verschlossenen Eternithaus, weil sein Vater, Schreibmaschinen-Holler, aus der Konkursmasse eines zahlungsunfähigen Klienten nicht eine Sonnenbank oder ein Ledersofa, sondern eben zufällig ein Klavier herausgezogen hatte, wie er es formulierte. Nur wenn dessen Sohn in der Dachkammer am Klavier saß, weit oben, weit weg von allem, als Nachbar allein der Wolken, die am schrägen Fenster entlangstrichen, über dem Lärm der ländlichen Rasenmäher, der Kärcher, des Staubsaugers, fühlte er sich aufgehoben, erleichtert, wie jemand, der aus einem viel zu engen, dazu kratzenden Kostüm hinaussteigt, um endlich die eigenen Kleider wieder anzuziehen.

Bei Marc hatte er zum ersten Mal den Eindruck gehabt, in den weiten Joggingklamotten seiner eigentlichen Seele unterwegs sein zu dürfen; seine Worte nicht planen zu müssen, bevor er sie aussprach, sie nicht auf die innere Goldwaage legen zu müssen, wie früher, da der Halbkreis der Freunde den Kopf regelmäßig schräg gehalten hatte, wenn er etwas sagte, als höre man nicht richtig, bevor man, meist über anderes, weiterredete. Und so ging es ihm letztlich auch bei seinem Jazzstudium, wo er sich immer vorkam wie jemand, der im Unterschied zu allen anderen das Wesentliche nicht kapiert hatte.

Er dachte an den zweiten Tag ihrer Freundschaft, der vorerst auch der letzte gewesen war. Er selbst hatte die langsamen Nachmittagsstunden in seinem Stammlokal in der Knaackstraße über sich ergehen lassen, weil in seiner Wohnung schräg gegenüber die Öfen schlecht zogen, weil die riesigen, aber billigen Räume überhaupt kaum zu beheizen waren im Winter und weil sein Mitbewohner Björn, der beim Film arbeitete, gewohnheitsmäßig überall gleichzeitig, aber niemals zu Hause war. Wie meistens am stillen Nachmittag, wenn das Lokal fast leer war, hatte er an seinem Lieblingsplatz am Fenster gesessen. Als er nachsah, ob das Grau vor den Fenstern bereits die ausreichende Dichte für ein erstes Bier erreicht habe, erkannte er Marc, der über den dämmrigen Platz auf ihn zukam, die Hände in den Taschen, die Lippen gerundet, als pfiffe er eine Melodie, und dieser über den Platz gehende Marc war einer derjenigen, die er später in der Vitrine seines Gedächtnisses aufbewahren sollte, nahezu gegenständlich, wie seine Mutter stets Andenkenfigürchen in den Wohnzimmervitrinen aufbewahrt und regelmäßig abgestaubt hatte.

Auch er staubte oft die Erinnerungen ab.

Er sah Marc durch das Fenster mit langen langsamen Schritten auf sich zugehen. Er dachte: Einseitige Freundschaft muss noch viel trauriger sein als einseitige Liebe. Er lachte, als Marc seine Nase an die Scheibe drückte, den Blick mit beiden Händen abschirmte und suchend direkt zu ihm hineinschaute, aber so tat, als könne er ihn nicht sehen. Sie spiegelten sich ineinander.

Tom bemühte sich, das Lächeln auf seinem Gesicht unter Kontrolle zu bringen. Seine Freude erschien ihm selbst etwas übertrieben. Sie saßen einander gegenüber und schwiegen einige Minuten, was ihm keineswegs unangenehm war, denn jemanden zu haben, mit dem man gut schweigen konnte, war alles andere als selbstverständlich. Er habe es sich gedacht, sagte Marc, nachdem er zwei Bier bestellt hatte, ihn hier zu treffen. Er komme nämlich, um sich zu verabschieden. Dann die knappe Erklärung, er habe durch Zufall, wie er es nannte, ein Stipendium für junge Komponisten erhalten, das ihn für ein halbes Jahr nach Berkeley / Kalifornien schicke. Für Marc schien das Thema damit erledigt zu sein, denn sein Blick wanderte, als wolle er von dieser Nebensächlichkeit ablenken, an einen Tisch im dunkleren Innern des Raums, wo zwei Mädchen saßen, die sich mit großen Gesten ihrer Hände immer wieder das lange Haar aus den Gesichtern strichen. Zigarettenrauch stieg in bläulichen Schlingen über ihre Köpfe. Marc hob eine Augenbraue, als er sie taxierte, wartend, bis eine seinen Blick kurz erwiderte, mit einem Lächeln, das wie ein flüchtiger Lichtschein sofort wieder hinter der dunklen Wolke ihres Gesichts verschwand. Ein feines Grinsen zog über Marcs Mund, als er sich über den Tisch zu Tom hinüberbeugte und ihn von unten ansah.