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Ihr Mann, so stand es in Marcs Brief geschrieben, Manager eines internationalen Konzerns, war selten daheim, und da die Kinder inzwischen eigene Wege gingen, hatte sie sich einen neuen Zeitvertreib gesucht, der die stockenden Nachmittagsstunden zwischen Zierkirschen und Wohnzimmersitzgruppe im riesigen Anwesen verscheuchte: das Klavierspiel. Sie sei nicht unbegabt, aber man müsse sich vor ihr in Acht nehmen, sonst ziehe sie einen mit Hilfe ihrer kurzen Röcke in eine geschmückte Leere hinein, in der man vergehe wie ein Streichholzflämmchen in einem Vakuum. Auch sei sie eine begnadete Schauspielerin, sei aber unter ihrem Schauspielerinnenkostüm in Wahrheit die tragische Figur der Post-Postmoderne zwischen Einbauküche, Toaster, Viersternegefrierfach und Kontoauszug, das Symbol des gegenwärtigen Menschen, der sich von innen her aushöhlt, sich entvitalisiert, also letztlich opfert, um sich in die Reihe seiner Haushaltsgeräte und Dinge einzugliedern, so Marc aus Übersee.

Sie empfing ihren neuen Lehrer höflich, aber so, als nähme sie nur seinen Umriss wahr, die Chiffre eines Klavierlehrers, aber nicht ihn selbst. Er fühlte sich gläsern und leer in ihrer Gegenwart, als flösse ihr Blick durch ihn hindurch, ohne Notiz von ihm zu nehmen.

Frau Hermanns war von undefinierbarer Jugendlichkeit. Als sie im weiten Flur auf ihn zugeschritten kam, erinnerte sie ihn an jene, aus deutschen Krimiserien bekannten, ebenso schönen wie mysteriösen Witwen mit dem melancholischen Blick, wie er durch eine große Trauer oder eine große Schuld entsteht. Ihr Mann aber war keinem Verbrechen zum Opfer gefallen, sondern in diversen Konzernzentralen oder Hotelzimmern oder an anderen Orten untergetaucht. In der Fotosammlung auf dem Rücken des Steinwayflügels befand sich auch ein Bild von ihm.

«Das ist Volker, mein Mann«, sprach sie. Sie sagte es lächelnd, als sie nebeneinander am Steinway Platz nahmen.»Das ist mein Sohn, meine Tochter. Sie studieren beide in den USA. Udo studiert BWL, Patrizia macht Schauspiel. «Außerdem die Fotos der Irish Setter, Raffael, genannt Raffi, Leonardo, genannt Leo, und Nelson, genannt Nelson.

Als er das bereits aufgeschlagene Notenheft, die Kinderszenen von Schumann, durchblätterte, konnte Tom es nicht verhindern, dass sein Blick einmal auf die Knie seiner Schülerin fiel, die unter dem Schlitz des beigefarbenen Rocks plötzlich in einem keilförmigen Ausschnitt sichtbar wurden. Die Beine, von einer Seidenstrumpfhose beglänzt, waren muskulös und gut geformt, Tennisspielerinnenbeine, wie er dachte, und auch ein Tennisspielerinnenröckchen hätte ihr unbedingt gestanden. Die Schülerin, die das Auftreffen seines Blicks zu bemerken schien, bemühte sich, den Spalt zu schließen, indem sie rasch darüberstrich. Sobald sie jedoch die Hände wieder auf die Tasten legte, öffnete sich der Rock erneut. Der Rock, dachte Tom, ist schön, aber definitiv nicht geeignet für den Klavierunterricht.

Er müsse wirklich entschuldigen, sagte sie plötzlich, denn es war ihr eingefallen, dass sie ihm noch nichts zu trinken angeboten hatte, und mit der Außenseite ihres Zeigefingers beseitigte sie eine lose Haarsträhne aus der Stirn. Eilig ging sie davon, ohne noch eine Note gespielt zu haben, indem sie den Rock glatt strich und mit ihrem Becken Schleifen in die Luft hineinschrieb.

Tom aber blieb allein zurück. Vor der Glasscheibe glitt lautlos ein Hund vorüber. Zwei weitere, nahezu identische Hunde, die mit einem orangeroten Ball spielten und geräuschlos im tiefen Grün der Tannen verschwanden.»Hier haben wir alles«, rief Frau Hermanns, deren rhythmisch sich nähernde Schritte die Stille zertrümmerten. Während sie den Bioapfelsaft, wie sie betonte, in zwei hohe schlanke Gläser goss, bemühte sich Tom, nicht in ihr Dekolleté zu sehen, was sich allerdings angeboten hätte, denn sie trug eine dunkelseidene Bluse, hauteng, deren oberste Knöpfe geöffnet waren. Vielleicht sah er aber dann doch hinein, während er sich überlegte, warum es eigentlich nicht erlaubt war, in Dekolletés hineinzusehen, da dieselben ja doch eigentlich dafür hergerichtet waren, dass man in sie hineinsah.

Unschlüssig gingen ihre schlanken Finger über die Tasten. Tom fragte, ob sie das Stück geübt habe. Nachdrücklich nickte sie, fast empört. Plötzlich senkte sie den Kopf und seufzte.

Sie sei einfach nicht dazu gekommen. Das Haus, der Garten, flüsterte sie, indem sie den Kopf gesenkt hielt, so dass Tom ihre Nackenwirbel sah, die oberhalb der Schulterblätter rund hervortraten. Der Garten, das Haus, die Tiere, wiederholte sie, es sei zu viel, sei einfach zu viel. Seitlich, mit verschobenem Mund, blies sie sich eine Haarsträhne von der Wange. Tom spürte am Hals ihren Atem, der dezent nach Parfum roch. Plötzlich hob sie den Kopf, ein Blick löste sich von ihr und sprang zu ihm hinüber, fixierte ihn aber nicht, sondern pendelte hastig zwischen seinen Augen. Zwei Glasmurmeln, ihre Augen, hin und her rollende, graue Glasmurmeln, dachte Tom und versuchte, anhand der Kinderfotografien auf dem Flügel ihr Alter zu berechnen.

«Wenn es Ihnen lieber ist, dann machen wir für heute Schluss«, sprach er.

Frau Hermanns jedoch, als hätte sie ihn gar nicht gehört, stand mitten in seinen Satz hinein auf, strich mit beiden Händen über ihre Hüften, bevor sie die langen Finger über dem Schoß verzahnte und in gesenkter Tonlage sagte:»Ich darf Sie nun bitten, zu gehen, ich fühle mich nicht ganz wohl. «Nachdrücklich schloss sie die Lider, wartete betont, bis ihr Klavierlehrer aufgesprungen war, bevor sie mit wiegendem Schritt und professioneller Überlegenheit voranging, denn sie war es, nicht er, wie sie ihm mit ihrer gesamten Haltung signalisierte, die eine bezahlte Dienstleistung in Anspruch nahm, sie war es, die sich dieselbe leistete und leisten konnte und deshalb auch entschied, wann der Unterricht beendet wurde und wann nicht.

Als sie einander vor der Eingangstür gegenüberstanden, wo Tom ihr seine Hand entgegenstreckte, ergriff sie dieselbe nicht, sondern verschränkte zunächst die Arme vor der Brust, indem sie Kopf und Oberkörper leicht nach vorn neigte, als wolle sie die Struktur des Marmorfußbodens oder die Effizienz des Reinigungspersonals untersuchen. Dann schleuderte sie den Kopf in den Nacken, blinzelte einige Male, hob ihre Hand und legte sie zart an sein Gesicht, ungefähr da, wo die Wange in den Hals übergeht. Tom vergaß zu atmen, die Berührung war kühl, und doch meinte er, dass seine Haut brenne, als hätte er eine mentholhaltige Salbe aufgetragen. Ohne seinen Oberkörper zu bewegen, tastete er mit der Hand hinter seinem Rücken nach der Klinke, öffnete die Tür, und trat rückwärts auf den Treppenabsatz hinaus. Frau Hermanns ließ langsam ihre Hand sinken. Ihre Augen vergrößerten sich. Sie schienen herauszufallen. Ohne seinen Abschiedsgruß zu erwidern, schloss sie die Tür.

Tom aber schrieb einen langen Brief an Marc, in dem er von der Mentholhitze auf seiner Wange berichtete und von ihrer großen Traurigkeit. Er schrieb einen zweiten Brief, in dem er vom Lieblingsschüler seines Freundes berichtete, Priv. Doz. Dr. Winfried Breitenbach, der, wie er der transatlantischen Gebrauchsanleitung entnommen hatte, ein genialer Kauz war, Schopenhauer- und Nietzscheexperte, dazu Mittelalterkenner, und in seiner Habilitationsschrift übrigens die Geschichte der Liebe (!) behandelt habe, weshalb Tom immer gut zuhören solle, so Marc aus Übersee, wenn er spreche, denn Breitenbach, wenn auch erst seit einem Jahr Klavier spielend, wisse doch theoretisch alles über Musik, und wahrscheinlich wisse er auch alles über die Liebe; zwar sei er Junggeselle, habe vermutlich nicht einmal je eine Freundin gehabt, wisse aber theoretisch alles über die Liebe, wie anzunehmen sei, obwohl oder eher weil er sie nicht kenne.

Und Tom hörte zu, wenn der an einen aufrecht gehenden Hasen in Secondhand-Kleidung erinnernde grünbeige Mann sprach, mit seinem buttrig angeschlagenen rollenden R, und er schrieb es auf für Marc, denn er hatte das Gefühl, nur indem er es seinem Freund mitteile, sei es auch geschehen. Sei er lebendig, lebe er. Er beschrieb die Stunden in plastischer Deutlichkeit, wie für einen Blinden: Den hasenartigen Professor, wie er an einem verschwindend kleinen Nierentischchen sitzt, das schon fast wieder modern ist, ein Bein übergeschlagen, von dem ein Streifen bläulich weißer Haut sichtbar wird unterhalb des Hosenrandes, ein paar unordentliche Fäden, die vom beigefarbenen Flanell fransen. Vollkommen unbehaarte Beinhaut zwischen Flanellstoff und Strumpf, wie auch die Arme und Hände vollkommen unbehaart waren. Wie seltsam es sei, schrieb Tom, sich vorzustellen, dass dieser grünbeige Körper unter seiner Kleidung nackt sei. Und wie er wohl beim Duschen aussähe, das habe er sich immer und immer wieder vorstellen müssen, schrieb Tom, während der grünbeige Professor über den Unterschied von Dur- und Molltonarten gesprochen habe. Wie es käme, dass wir beim Hören eines Molldreiklangs einen traurigen, beim Hören eines Durdreiklangs aber einen fröhlichen Eindruck hätten. Ob es wahrlich nur an jenem Halbtonschritt liegen könne, der minimalen Differenz zwischen einer kleinen und einer großen Terz. Und was genau diese minimale Differenz, dieser winzige Millimeter im menschlichen Gemüt bewirke? Traurig oder fröhlich? Und was das überhaupt sei? Und wie erstaunlich es weiterhin sei, habe er gesagt, dass ausgerechnet wir, die Deutschen, die, wie man sage, Schwermütigen, Grüblerischen, die zur Ausgelassenheit Unfähigen, in unserer Volksmusik im Gegensatz zu allen anderen europäischen Volksmusiken auf die Dur-Tonarten abonniert seien. Während alle übrigen europäischen Musikstile, die italienische Canzone, der portugiesische Fado, die russische Romanze, der spanische Flamenco, die französische Musette, der finnische Tango, ganz zu schweigen von der orientalischen Tradition (und sogar die südamerikanische Musik wie der Tango oder der Son, auch der Bossa Nova übrigens), während all diese Musiktraditionen die Moll-Tonarten bevorzugten, sei die deutsche Volksmusik ja fast durchweg in Dur. Ob das nicht erstaunlich sei? Man könne es sich nur so erklären, schrieb Tom, denke Breitenbach, dass die Deutschen die Musik nicht als Ausdruck ihrer selbst sähen, sondern als einen Verdrängungsmechanismus. Eine Art gigantische Unterhaltungs- und Verdrängungsindustrie sei die deutsche Volksmusik, und je depressiver das Volk, desto fröhlicher, marschmäßiger, vorwärtsgewandter sei die Musik, optimistisch bis zur Hysterie. Breitenbach habe dann geschwiegen, habe einen großen Schluck Tee genommen, habe mit zusammengekniffenen Augen hinter den spiegelnden, stark vergrößernden Brillengläsern knapp über den Rand der Tasse hinausgeblickt, die Tasse an die Lippen gedrückt. Das Ticken der Wanduhr. Vor dem Fenster das Picken eines Spechts. Breitenbach schien ganz in das Ticken und Picken der Zeit und der Natur versunken gewesen zu sein, denn kaum merklich nickte er dazu. Dann stellte er seine Tasse auf seinem Oberschenkel ab, schob mit der Handfläche seine Brille an beiden Gläsern hinauf, bevor er endlich fortfuhr. Während die übrigen Volksmusiken, so er, dem Sänger ein Bewusstwerden, ein reinigendes Innewerden seiner selbst ermöglichten, sei die deutsche Volksmusik ein Mittel zur Selbstvergessenheit. Eine aufputschende Narkose. Wieder führte er die Tasse an die fleischigen Lippen, sog den Tee schlürfend durch die Zähne. Ob es Marc auch schon aufgefallen sei, schrieb Tom, wie sehr Breitenbach schlürfe! Er selbst jedenfalls habe plötzlich einen Lachanfall niederkämpfen müssen, während Breitenbach über Nietzsches Philosophie des Vergessens gesprochen und immer wieder laut geschlürft habe. Das Vergessen sei, habe er erklärt, laut Nietzsche ja kein Defizit, sondern ein aktives, also positives Hemmungsvermögen, das die Überlagerung der Gegenwart durch die Vergangenheit unterbinde. Vergessen und Erinnern seien demnach die Werkzeuge, mit denen wir aus der Zeit, aus dem unförmigen gigantischen Felsen Zeit, unser persönliches Lebensrelief herausmeißelten. Schlürf. Was gefährlich sei. Und die deutsche Volksmusik helfe dabei. Sie helfe, alles Subversive, alles Tiefgründige, alles Kontraproduktive, alles Individuelle zu vergessen. Schlürf. So in etwa. Mehr habe er sich nicht merken können.