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Die Gasse, an deren Ende ein helles Licht leuchtete, war als ein schmaler weißer Keil in die Dunkelheit hineingetrieben. Holler ging auf das Licht zu. Es war die vierspurige Autostraße, die am Meer entlangführte. Er überquerte sie, unachtsam, was ihm erst auffiel, als ein langes Hupen an ihm vorüberdröhnte. Er stand da, rauchend, und sah aufs Meer, wie unzählige Menschen zu allen Zeiten aufs Meer hinausgesehen haben, aber ohne die typischen Gedanken, die aufs Meer hinaussehende Menschen sich zu allen Zeiten gemacht haben, Gedanken über das Allgemeinste, das immer auch das Persönlichste ist, Leben und Zeit und Ewigkeit. Holler dachte nur: Aha, das Meer. Das Meer erinnerte an eine schwarze Teerschicht, die hinter geduckten Hafengebäuden lag. Kräne ragten wie Gerippe in den von Positionsleuchten erhellten Himmel. Und kein Stern machte sich die Mühe, gegen das Menschenlicht anzuscheinen. Wie leblos und kalt der Nachthimmel war. Hätten die Menschen immer schon in erleuchteten Städten gewohnt, dachte er auf einmal doch allgemeinpersönlich, sie wären nie auf die Idee eines Gottes gekommen. Er ließ sich auf eine Bank fallen. Er dachte an den Himmel in jener einzigen Nacht. Als sie die Sterne betrachtet hatten wie ein geliebtes Fotoalbum. Den Himmel, hoch und fern und doch vertraut und belebt über den nahen Zweigen eines alten Eukalyptusbaumes.

Er hatte auf dem Rücken gelegen, in Hüfthöhe hatte ihm eine Baumwurzel ins Steißbein gedrückt, aber die Nacht war zu erhaben gewesen, um sie durch die geringste Bewegung zu stören. Durch die Baumzweige hinauf hob er seinen Blick ins hohe Schwarz, durchglüht von den fernen Lichtern, die atmeten und pulsierten, als zwinkerten sie. Sie sehen uns zu, könnte man denken, dachte er, und in diesem Moment war da ein Geräusch, ein katzenartiges Rascheln, Bettys weicher Indianergang, und sie lag neben ihm, ohne dass er die Bewegung hätte hören können. Ihre Blicke gingen nebeneinander, Hand in Hand, in den Himmel hinauf. Die Baumwurzel im Rücken aber war hart und eine Vergewisserung der Wirklichkeit, während sich die Sterne aus ihren Verankerungen lösten dort oben. Sie zitterten, schienen auf die spiegelnde Wasserscheibe hinabzufallen.

Sie atmeten kaum. Das Schweigen dehnte sich aus zwischen ihnen, eine Decke, auf der sie beide liegen könnten bis ans Ende des Universums. Zumindest Tom, Baumwurzel hin oder her. Er würde sie durchliegen, würde sie in den Boden hineinliegen, wenn nur Betty neben ihm bliebe. Eine Woge klatschte ans Ufer, ein Wind in den Zweigen, dann ein großes Innehalten. Sie waren in einem oberitalienischen Landschaftsgemälde.

Er schloss die Augen. Sein linker Arm lag neben seinem Oberkörper, zwei Zentimeter bis zu Betty. Er spürte die Wärme ihrer Haut. Ein Rascheln, kaum hörbar, und ihre Finger auf seinem Handrücken. So lagen sie, und die Zeit trat aus ihrem Referenzsystem, wobei sie sich ins Unendliche dehnte und krümmte, um sich in den eigenen Schwanz zu beißen. Sie lagen seit Ewigkeiten nebeneinander, als gäbe es keine andere Wahl. Der freie Wille war ein Märchen. Diese Hand aber gehörte in jene, ein Naturgesetz, eingeschlossen in die dunkle Materie, lange vor der Ausdehnung des Raums.

Dann war sie verschwunden. Die Wärme ihrer Hand hatte wie ein Lichtsignal noch auf Toms Haut gelegen, als Betty mit einem stockenden Geräusch den Reißverschluss von Marcs nagelneuem Zwei-Personen-Outdoorzelt geöffnet und wieder geschlossen hatte, in der Dunkelheit des Campingplatzes» Gardenia — Como sul Lago«. Tom hatte dankbar den Sternen zugezwinkert, als wäre die Berührung deren Verdienst gewesen. Er hatte seinen Oberkörper ein wenig verrückt, hatte mit dem Steiß über den trockenen Boden voller Baumwurzeln geschabt und endlich eine bequemere Position gefunden. Dann war das Schicksal in den See gestürzt, in Form einer Sternschnuppe. Er hatte die Augen geschlossen und sich etwas gewünscht, das um freie Bahn, günstige Vorsehung, Liebe kreiste. Daran war nichts zu ändern, auch wenn er inzwischen zu wissen glaubte, dass alles aus Zufall geschah und es nicht die Sterne waren, an deren Zacken die Fäden der menschlichen Geschicke hingen.

DAS ZIMMER DES WESENTLICHEN

Als sich am Montagmorgen die Milchglastür hinter ihr schloss, tauchte Betty in ihr Element. Tiefe Ruhe herrschte, unterbrochen nur von vereinzelten elektronischen Signalen, vom vorbeigleitenden Weiß der Schwestern, die mit ihren Kreppsohlen feine Klebegeräusche auf dem Fußboden erzeugten und doch zu schweben schienen wie helle Schatten durch die Unterwasserstille der Intensivstation, in der alles, das Wechseln der Infusionen, Bedienen der Tastschalter an den Monitoren, das Umbetten der bewegungsunfähigen Patienten, das stumme oder flüsternde Verweilen der Angehörigen, sogar die eiligen Gänge, raschen Handgriffe bei Alarmsituationen, zeitlupenhaft und verknappt erschien, spärlich nur beleuchtet vom Tageslicht, das durch die grünen Lamellenvorhänge sickerte.

Betty durchschwebte die grünstichige Welt, verabschiedete ihre Kollegin in den hellen Tag und setzte sich an den Schreibtisch im Vorraum, um die Patientenakten zu studieren. Sie hatte kaum geschlafen in dieser Nacht, in diesem Gästezimmer, in dem sie sich nichts anderes wünschte, als nach Hause zu gehen, wo sie bereits war. Trotzdem fühlte sie sich keineswegs müde, sondern gespannt, aufgezogen, als ticke die Uhr in ihr schneller, um die endlose Länge der Nacht auszugleichen. Alfredo hatte ihr kein Frühstück gemacht an diesem Morgen, sondern nur einen Espresso getrunken, hatte die Zeitungen durchgeblättert, in äußerster Eile trotz der frühen Stunde, im Stehen, vielleicht weil sein Stuhl neuerdings besetzt war von einem unsichtbaren Mitbewohner, jenem anderen, der vor ihm da gewesen war und vor dem sie nicht sicher war, nicht einmal in Italien, wo die Höhe der Alpen und die vielen Jahre zwischen ihnen lagen, und an dessen Augen und Haar und Hände sie gedacht hatte in der schlaflosen Nacht auf der Gästecouch. Wie viele Erinnerungen, verblasste Bilder, verklungene Sätze hineinpassen in so eine schlaflose Gästecouchnacht, dachte sie. Ihre Augen brannten, sie blinzelte. Ein graues Computergesicht schaute sie an. Und ihr anderes Leben hinter den Bergen, hinter den vielen Jahren. Immer wieder Tom Holler vor der glänzenden Fläche eines Sees. Und Holler am Klavier, Zigarette im Mundwinkel, Augen halb geschlossen vor dem Zigarettenrauch. Der Blumenhügel eines frischen Grabes, von Bienen umsummt. Ein Holzkreuz. Sie hatte den Namen und die Daten gelesen, immer wieder, um sich zu vergewissern: Marc Baldur, geb. am 08. 03. 1969, gest. am 21. 05. 1997. Sie hatte sich gewundert über die Betriebsamkeit der Bienen, die keinen Unterschied machten zwischen Friedhofsblumen und Nichtfriedhofsblumen, über die Helligkeit der Sonne an diesem Tag, die ihr zeigte, dass die Welt sich weiterdrehte, sich aber keineswegs um die Menschen drehte, und diese kopernikanische Wende hatte sie hinausgeschleudert in einen entlegenen Platz des Universums, Lichtjahre entfernt von Holler, der neben ihr am Grab ihres Freundes stand. Sie las die Daten auf dem Holzkreuz. Sie las die Patientenakten. Ein Neuzugang in der Nacht, marginale Überlebenschancen, Verkehrsunfall mit Vespa und LKW, epidurale Blutung, nach Notoperation Rezidivblutung. Die Angehörigen hatte man telefonisch vorbereitet, ein ausführliches Gespräch für den Vormittag anberaumt. Zwei weitere präfinal, sonst die übliche OP-Nachsorge. Betty stand auf, tauchte wieder in die grünstichige Stille des Patientenzimmers.»Er wird es nie erfahren«, hatte Tom gesagt. Über ihnen die Leere des Himmels, der alles gesehen hatte mit seinem großen blauen Auge. Der Himmel aber hatte geschwiegen, dachte sie.