Выбрать главу

Sie überblickte die Reihe der Betten zwischen den Raumteilern. Die Körper unter den Decken waren kaum zu unterscheiden am Relief der Füße, der Knie, der Schenkel, weil sie angesichts des allgemeinen, des für alle gleichen, des keinen Unterschied machenden Todes das Individuelle bereits verloren zu haben schienen. Stets näherte man sich ihnen vom Fußende her, die Perspektive gedehnt, die flache Wölbung des Körpers, die blassen Hände, die immer auf der Bettdecke lagen, zur Berührung bereit, und ganz hinten, unter Beatmungsmasken und Schläuchen verborgen und kaum zu erkennen, das Gesicht. Betty Morgenthal näherte sich den Betten, sank bis an den Grund.

Das Gesicht des Neuzugangs, Federica Bonardi, wohnhaft in Pozzuoli, fünfzigjährig, die laut Polizeibericht am Vortag, wie jeden Sonntagvormittag, in der Konditorei Sfogliatelle hatte einkaufen wollen und, wohl wegen des starken Regens, beim Abbiegen vom Fahrer eines Lieferwagens übersehen worden war, schien unversehrt und erstaunlich jung. Betty spritzte ein blutdrucksenkendes Mittel, obgleich es hier weniger um Heilung als um die Aufrechterhaltung der vegetativen Funktionen ging und ein schneller unspektakulärer Tod für alle Beteiligten die beste Lösung wäre, ein leises, kaum wahrnehmbares Hinübergleiten in die Dunkelheit, ähnlich dem wortlosen Schließen eines Vorhangs.

Signor Bonardi trug, als er kam, ein hellblaues Köfferchen in der Hand. Er stellte es im Vorzimmer neben sich ab, darin seien Kleider zum Wechseln für seine Frau, Unterwäsche, Pantoffeln, ein Schlafanzug, soweit er alles gefunden habe. In einer Plastiktüte hielt er ihre Medikamente, man habe am Vortag darum gebeten. Bonardis breite Schultern fielen in Richtung Fußboden, als er im unerbittlichen Neonlicht des Ärztezimmers stand. Alles an diesem großen schweren Mann schien hinabstürzen zu wollen, und es war nicht ersichtlich, wodurch er sich aufrecht hielt. Weil alles zugleich stürzt vielleicht, dachte Betty, verbot es sich aber. Rechts neben ihm die Tochter, etwa zwanzigjährig, links der Sohn, unwesentlich jünger. Sie rahmten den Vater, als ob sie ihn stützen wollten, aber der Abstand zwischen ihren Körpern war ein wenig zu groß, zu vereinzelt standen sie in der Neonhelle des Zimmers.

Betty Morgenthal nahm die Medikamententüte entgegen, die niemand mehr brauchen würde, und bat die Familie, sich zu setzen. Sie würde gern, sagte sie, mit ihnen sprechen, bevor sie zu der Kranken hineingingen. Sie wartete, bis die Angehörigen sich auf den Angehörigensesseln niedergelassen hatten, gepolsterte, bequeme Sessel waren es, in denen man einsank. Angehörige, dachte sie, indem sie sich kaum merklich mit ihrem Drehstuhl hin und her bewegte, was für ein seltsamer Ausdruck im Deutschen, den sie in Gedanken auch noch nach Jahren benutzte, weil es für ihn im Italienischen keine Entsprechung gab, der ausschließlich für negative, ja beinahe stets den Tod betreffende Gelegenheiten, wie schwere Krankheiten, Unfälle etc., benutzt zu werden schien, niemals für erfreuliche. Einem Menschen angehörig schien man erst dann zu sein, wenn man diesen verlor.

Betty räusperte sich und setzte ein bekümmertes, aber nicht zu bekümmertes Gesicht auf.

Was sie denn bereits wüssten, fragte sie, weil man so anfing, indem man die Angehörigen einbezog. Die Angehörigen sahen stumm geradeaus auf einen Punkt oberhalb ihrer Nase. Betty räusperte sich, blickte in die Augen und tief in die Leben dieser drei Menschen für einen Moment. Sie senkte den Blick in die Patientenakte, räusperte sich, betrachtete die halbmondförmigen Abdrücke ihrer Daumennägel in der Kunststoffmappe. Sie hätten ja am Morgen bereits einen Anruf von der Klinik erhalten, fuhr sie fort, indem sie aufmunternd nickte.»Ja«, sagte die Tochter endlich, sie wüssten, dass ihre Mutter in der vergangenen Nacht eine neue Blutung bekommen habe und dass man nicht noch einmal operieren könne. Das Sprechen schien ihr große Mühe zu bereiten, denn ihr Mund vibrierte, und kaum wollten sich die Lippen zur Tätigkeit des Sprechens zusammenfinden.»Aber wir wissen nicht, was das heißt«, fügte sie hinzu, und die letzten Worte kippten nach hinten in ihren Hals zurück, in einem hell-blechernen Ton, den man kaum noch verstand und nur schwer von einem leisen Schrei unterscheiden konnte. Ein nicht nach außen zielendes, sondern ein umgekehrtes, in den eigenen Körper gerichtetes Schreien. Betty konnte ihr eigenes Blinzeln hören.

Es tue ihr leid, dass sie ihnen nichts Günstigeres berichten könne, sagte sie, was eine bewährte und oft gebrauchte Redewendung war. Wie sie schon wüssten, sei es nach der Notoperation zu einer weiteren Blutung gekommen, was sehr ungünstig sei. Sie sprach langsam, wie zu Schwerhörigen. Obwohl man durch die Schädelöffnung eine Druckentlastung bewirkt habe, sei die linke Gehirnhälfte durch die erneute Blutung deutlich angeschwollen. Aufgrund des künstlichen Komas könne man nicht feststellen, welche vegetativen Funktionen noch vom Organismus selbst übernommen würden, Atmung beispielsweise. Man werde die Patientin im Laufe der nächsten Tage von der Maschine nehmen, um das zu überprüfen. Alles in allem seien die Chancen, fuhr sie fort, nicht günstig bei einer solchen Schwellung des Gehirns, aber natürlich könne man nie wissen.

«Wie lange wird es dauern?«Kaum zu hören war die Frage des nun schief aus seiner Sitzgelegenheit ragenden Vaters.

Die Ärztin könne leider auch hier keine genaue Prognose geben. Es könnten einige Tage sein, aber auch eine Woche. Pause. Erneutes Blinzeln. Die Augen der Angehörigen waren Abgründe, in die man sich unter keinen Umständen hineinziehen lassen durfte, weil dies unprofessionell war und niemandem diente. Sie könnten jetzt zu ihr hinein, sagte sie und stand auf, ging ihnen voran, abermals denkend, wie sehr sich die Menschen glichen am Ende und am Anfang: Ein rot geschrienes Neugeborenes ähnelte dem andern, und im Tod schrumpften die über eine Lebensdauer ausgebildeten individuellen Eigenschaften wieder auf das Wesentliche, das Relief des ausgestreckten Körpers unter dem weißen Laken zusammen. Und auch im Schmerz glichen sie sich. Während sie im Vorzimmer gefasst, um Haltung bemüht waren, erfolgte beim Anblick des Sterbenden, da das nicht Vorstellbare sichtbar wurde, regelmäßig der Zusammenbruch. Der Bruder hielt die Schwester. Ihr Oberkörper knickte ein, bebte unter der Wucht der Tränen, die sich nun Bahn brachen. Der Vater senkte den Kopf und presste seine Faust gegen die Augen, als wollte er sie in den Schädel hineindrücken, bevor er die Hand öffnete, um sie in eckigen Bewegungen durch die Luft zu führen, über dem Kopf seiner nichts ahnenden Frau.

Dass er sie ruhig anfassen könne, flüsterte Betty. Aber er schien die Fühllosigkeit dieser Haut zu fürchten. Mit den Blicken suchte er eine geeignete Stelle, berührte dann zuerst die schmale, von der weißen Klinikwäsche bedeckte Schulter, tastete sich dann langsam vor, ließ die kräftigen Finger unbeholfen von ihrem Hals zum Gesicht, zu ihrer Wange gleiten, und Betty überlegte, wann er sie wohl das letzte Mal gestreichelt hatte. Der Kopf vibrierte leise auf dem Kissen, es sah aus, als nicke sie, genieße sie die vielleicht ungewohnte Berührung, aber niemand konnte wissen, was in diesem scheinbar unversehrten Kopf vorging, darin zu Ende ging.

Die Tochter weinte lautlos jetzt und hielt die Hand der Mutter, behutsam, als wolle sie ihr nicht weh tun. Der Bruder hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Sein Oberkörper war noch jungenhaft, aber die Haltung wollte schon männlich sein. Er starrte schräg über das Bett hinweg an die gegenüberliegende Fensterfront, wo eine der Schwestern im Begriff war, den stockenden Lamellenvorhang zu richten, weshalb plötzlich ein Strahl ganz gewöhnlichen Sonnenlichts hereinfiel, der auf den PVC-Fliesen zerging, und der junge Mann, wie geblendet, die Augen abwandte, bis die Krankenschwester auf den Zehenspitzen ruckelnd, den Vorhang wieder geschlossen hatte.

Das Schlimmste aber hätten sie, die Angehörigen zu tragen, sagte nun Betty, wie es ihre Aufgabe war. Die Patientin selbst, sagte sie, spüre ja nichts, habe keinerlei Schmerzen, kein Leiden, bekäme nichts mit. Wie Trockenblumen stellte sie ihre erprobten haltbaren Worte in den Raum. Und wenn sie weitere Fragen hätten, jederzeit, sagte sie, wie sie es immer sagte, Anrufe natürlich auch nachts. Die Tochter schniefte, ein glänzendes Rinnsal Rotz lief ihr am Kinn hinab, daran hatte sich eine Haarsträhne festgeklebt. Wer dachte an Taschentücher an einem Morgen wie diesem? Betty gab eine Packung aus und ließ sie allein.