«Du wirst dich dran gewöhnen. Die Luft ist besser. «Betty atmete hörbar ein, sah an seiner Wange vorbei über das Meer, das glatte Blau des Himmels.
«Ma che aria«, sagte Alfredo, dann verhaltener, wie ein Echo:»Che aria. «Er richtete sich auf, sprach weiter, belebter nun, mit wippendem Oberkörper, und erklärte, dass übrigens nichts sich geändert habe, und begann auszuholen zu einem Diskurs über den Zusammenhang des sozialen mit dem geographischen Gefälle in der Stadt, die Armen unten, die Reichen oben, wie seit jeher.
Betty, die das bereits kannte, ließ ihre Hände an seinem Wollpullover hinabgleiten und ging in die Küche zurück. Hier standen, wie in Flur und Zimmern, noch Umzugskartons herum, die inzwischen als Ablageflächen und Regale fungierten. Schon hatte sich Staub auf ihnen niedergelassen und sie zu Einrichtungsgegenständen befördert.
Erst vor wenigen Wochen waren sie von dem chaotischen, lärmenden und sozial benachteiligten Stadtteil mit dem euphemistischen Namen» Montesanto «auf den Hügel gezogen, in den bürgerlichen Stadtteil Vomero, was sich aufgrund von Verbindungen so ergeben hatte; auch deshalb, weil die Einzimmerwohnung auf dem» Heiligen Berg «definitiv zu klein geworden war für einen Kulturredakteur und eine Anästhesistin. Weil außerdem Betty und zufällig auch Alfredo nacheinander innerhalb weniger Wochen überfallen und ausgeraubt worden waren, was in Montesanto mitunter passierte, im Vomero eher nicht, und weil ein Arbeitskollege die geräumige Wohnung zu besonders günstigen Konditionen an Alfredo Sandri mit Frau vermietete, und weil sie keine fünfundzwanzig mehr waren und auch keine dreißig und Lebensabschnitte endlich sind, was an sich kein Grund zur Verzweiflung war. Alfredo aber hatte am Tag des Umzugs als Ausdruck seiner Trauer eine schwarze Krawatte um den Hals gebunden, weshalb zumindest seine Frau hatte lachen müssen, wie sie oft über ihn lachen musste, auch wenn er gar nicht beabsichtigte, einen Witz zu machen.
Beim Frühstück berichtete er halbherzig über die Goldoni-Premiere, die er am Abend zuvor gesehen hatte.»Sie entkleiden sich jetzt auch in Italien immer«, sagte er,»bei jeder Inszenierung. «Irgendein Regieassistent habe es vermutlich einmal in Berlin oder in Wien oder in Zürich gesehen, wo sie es längst schon nicht mehr machten, aber in Italien hielten sie es jetzt für modern, also hatten sie sich schon im ersten Akt ihrer Kleider entledigt, woraufhin er selbst spontan eingeschlafen und erst in der Pause wieder erwacht sei. Sie lachten beide. Betty vor allem deshalb, weil Alfredo, wenn er Deutsch sprach, solche Worte benutzte, entkleiden, sich entledigen, erwachen, Begriffe, denen man nur noch in Konversationslexika aus dem 19. Jahrhundert oder in Opernlibretti begegnete.
«Und was wirst du jetzt schreiben?«
«Dass ich eingeschlafen bin. «Sein Gesichtsausdruck hatte sich verändert, nur das Lächeln lag noch auf seinem Mund, als wäre es dort vergessen worden.
«Jetzt bekommen wir bald Kinder«, sagte er auf Italienisch, in einem Ton, in dem andere sagen, jetzt sterbe ich bald.»Wir kaufen eine Schrankwand. Wir schließen eine Lebensversicherung ab!«
Betty lächelte. Sie ahnte seit längerem, dass Alfredo, der Kinder angeblich für verzichtbar und spießig hielt, insgeheim vielleicht nichts gegen eines einzuwenden hätte.»Schrankwand und Lebensversicherung meinetwegen«, sagte sie leichthin und wischte mit der flachen Hand einige Müsliflocken vom Tisch.
Als sie ihn zum Abschied flüchtig auf die Wange küsste, hielt er ihre Handgelenke fest, stand auf und umarmte sie, nicht wie man sich für einen Arbeitsabschied umarmt, sondern wie für einen Reiseabschied, mindestens zwei Wochen Übersee. In der Tür drehte sie sich noch einmal nach ihm um, er nahm ein schmutziges Geschirrhandtuch von der Spüle, legte es sich um die Hüften:»Heute Abend gibt es eine schöne Lasagne.«
Mit seitwärts ausgestreckten Armen ging er einige Schritte rückwärts, ohne seine Frau aus den Augen zu lassen, drehte eine Pirouette, die verunglückte, aber Betty lachte, als sie aus dem Hausflur in die Helligkeit des Tages trat.
Wenn sie die Piazza Bellini überquerte, das Musikkonservatorium passierte, das schräg gegenüber vom Poliklinikum lag, beschleunigte sich ihr Schritt. Ihre Beine hasteten über das holprige Pflaster, an den Palmenkübeln, Cafétischchen, den Bücher- und Notenständen vorbei, drängten sich durch Reisegruppen, die mit aufgerissenen Augen und schiefen Köpfen den Glockenturm der Kirche San Pietro a Majella anstarrten. Sie hingegen, eilend, sah nur den Boden, das holprige Pflaster aus dunklem Vulkangestein, wenn sie an dem riesigen Renaissancegebäude vorbeirannte, aus dessen hohen Fenstern Klavierläufe wogten oder Gesangsgirlanden, Violinenzickzack.
In ihren ersten Jahren in Neapel hatte sie meist andere Wege gewählt. Als sie noch mit Alfredo in Montesanto gewohnt hatte, war sie, um das Konservatorium zu umgehen, lieber von der Via Roma über die Via Vincenzo Bellini gekommen, anstatt, wie es sich anbot, von der Piazza Dante direkt in die Via Port’ Alba abzubiegen, aber da man sich an alles gewöhnt, auch an die Außenfassade eines, wie sie sich sagte, drittklassigen Musikinstituts, ging sie jetzt täglich zweimal daran vorüber.
An diesem frühen Morgen hörte man aus dem Gebäude schon Klavierakkorde, und Betty zögerte einen Moment zu lange. Es war die Klavierexposition eines Schumannliedes, und wie ein Sonnenlichtstrahl, ein umgekehrter, drang durchs geöffnete Fenster heraus die Gesangslinie. Ein junger Tenor sang die» Mondnacht«, hell. Er hatte Probleme mit der deutschen Aussprache, mit den Umlauten, auch mit dem» h«, das er stärker aspirierte als notwendig —»es war als chätt der Chimmel /die Erde still gekusst«. Betty hielt ihr Gesicht schräg ins Licht dieser Stimme, schloss die Augen.
Sie kam spät in die Klinik. Demonstrativ verstummte im Besprechungszimmer der leitende Chefarzt De Santis, bis sie sich gesetzt und ihre Unterlagen zurechtgelegt hatte. Carlo Vitelli wurde während der gesamten Besprechung von Betty mit der Schere ihres Desinteresses scharfkantig aus dem Raum getrennt, obwohl sie auch heute, wie in den letzten Wochen meistens, größeren Wert auf die Auswahl ihrer Kleidungsstücke gelegt hatte, um zumindest äußerlich annähernd seinen romantischen Vorstellungen zu entsprechen, die Kontur seiner Vorstellung auszufüllen mit etwas Wimperntusche und engen Jeans, denn es war einige Zeit her, dass ihr jemand eine derartige Aufmerksamkeit geschenkt hatte.
Als sie über den langen Flur in Richtung OP lief und keineswegs auf den wartete, der, wie sie annahm, hinter ihr herkam, war sie sich ihres Ganges bewusst, des geschmeidigen, etwas gebogenen Oberkörpers, Birke im Wind, und der Geste ihrer Hand, die das kupferbraune Haar, das, wie man sagte, glänzte, hinter die Schulter gleiten ließ, wo es eine einzige Fläche bildete und hin und her schaukelte.