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BELEUCHTUNGSPROBE

Tom Holler ahnte seit langem, dass es auf die richtige Beleuchtung ankommt im Leben. Die Dinge ändern sich mit der aktuellen Lichtstimmung: Eine Reihenhaussiedlung im Berliner Norden, Häuserkartons in tannenbestandenen Gartenvierecken, die, eingeschlossen in schmutziggraue Luft, als materialisierte Depression daherkommt, erweckt bei Sonnenschein immerhin den Eindruck einer gewissen Ländlichkeit. Das Wasser eines neben der Vorortsiedlung gelegenen Sees hat die verschiedensten Farbmixturen zwischen schlammbraun und leuchtend türkis anzubieten, je nachdem, ob zufällig ein Licht durch die Oberfläche bricht oder nicht, und selbst der blaue Himmel über See und Vorortsiedlung — ein Physiker hatte es Tom bei irgendeiner Gelegenheit erklärt — ist in Wahrheit ein Nichts, durchsichtig, eine mehr oder weniger ansprechende flüchtige Illusion, die ausschließlich auf den Lichteinfall, den Lichtzufall, zurückzuführen ist.

Genauso die Seele. Sie ist die Vorortsiedlung, dachte Tom, das farblose Wasser des Sees, der durchsichtige Himmel, und irgendetwas übernimmt die Funktion des Sonnenlichts: ein Lächeln aus bestimmten Frauenaugen, eine Tonfolge, ein Anruf, Hormone, die wiederum diese oder jene physiologische Schaltkonstellation im Gehirn erzeugen, willkürlich Weichen verstellen, wodurch Stimmungen allenfalls relativ, schwankend, um nicht zu sagen trügerisch sind, eine Einbildung.

Tom saß am Fazioli-Flügel des» Teatro della Corte «in Genua herum, klimperte» As Time Goes By«, um sich die Zeit zu vertreiben, und wunderte sich, dass er so gut gelaunt war. Seine Seele war, wenn nicht blau leuchtend, so immerhin von einem diffusen Seitenlicht angestrahlt, das durchaus genügte, um am Leben zu bleiben.

Er spielte absichtlich» As Time Goes By«, während die Techniker an den Scheinwerfereinstellungen schraubten, ein Stück, das ihm früher etwas bedeutet hatte, obwohl es ein durchschnittlicher Jazzstandard war. So ein Lied hatte ihm einst die Welt ersetzen können. Und später hatte sich die Musik als Netz aus Tönen über den Abgrund gespannt, eine Hängebrücke, auf der man über das Nichts spazieren konnte, bis dieses Netz sich irgendwann abgenutzt hatte, dünner geworden und schließlich gerissen war, so dass er seitdem daran herumflickte und sein Komponieren nichts anderes gewesen war als das notdürftige Stopfen des defekten Gewebes, bevor er es vor einigen Monaten ganz aufgegeben hatte.

Er spielte mit samtenem Anschlag, aber das Lied sagte ihm nichts mehr. Auch das Italien-Programm, das sie am Abend vor nahezu ausverkauftem Haus spielen würden,»Wohlfühlmusik mit einem Schuss Melancholie«(so hatte es eine ostdeutsche Provinzzeitung formuliert), sagte ihm nichts, war abgeschmackte Empfindungsstrategie, so dachte er, mit todsicheren Dur-Moll-Verbindungen für ein zumeist akademisches Publikum, Architektenjazz in die Ohren italophiler Gymnasiallehrer und Tango tanzender Artdirektorinnen. Aber es kam an, erstaunlicherweise sogar bei der Kritik, wodurch sie inzwischen mit vier Jazz-Awards in Folge, zwei Weltmusikpreisen und nicht unbeträchtlichen Verkaufszahlen gesegnet waren. Trotzdem saß Tom Holler an manchen Vormittagen mit übergeschlagenem Bein und in die Handfläche gestütztem Kinn auf der Bettkante und wünschte die Zeit der schlecht bezahlten Autohausauftritte zurück, die Fahrten im Leihwagen mit viel Alkohol und harmlosen Drogen, diese Randexistenz in geflickten Anzügen, da Kommerzrealität und musikalischer Anspruch noch in zwei getrennte Welten differenziert waren, erstens die Welt der Erscheinung, Autohausauftritte, Jubiläen von Einkaufspassagen, von Krankenkassen, und zweitens das geheimnisvolle Eigentliche, die bedeutende, die eigentliche Musik, die Kunst (was immer das gewesen sein sollte), bevor diese beiden getrennten Universen in eine einzige undefinierbare Zwischenwelt zusammengefallen waren.

Auf der Bühne schlurften einige Tontechniker gelangweilt hin und her und steckten ohne erkennbares System Kabel ineinander und wieder auseinander.»There is a problem with the connection«, wurde gesagt, was immer das heißen sollte, und Holler fühlte sich sofort zu Hause. Er drückte seine Zigarette in den Aschenbecher, beobachtete seine auf der Bühne herumgehenden, Kabel hinter sich herziehenden Kollegen, und weil es nicht helfen würde, wenn er auch noch ziellos über die Bühne gehen würde und Kabel hinter sich herzöge, drehte er sich eine neue Zigarette, zündete sie an und sah den Rauchschlieren zu, wie sie im staubigen Scheinwerferlicht aufgingen.

Um die Zeit totzuschlagen (eine Redewendung, die er mochte, behauptete sie doch euphemistisch eine Überlegenheit des Menschen über die Zeit, indem man sie sich als einen Schwarm winziger Sekunden und Minuten mit Beinchen, eventuell Flügeln, vergegenwärtigte, die man mit Hilfe einer großen Fliegenklatsche erschlug, die Stunden dagegen als dicke, etwas plumpe, durch einen Hieb der bloßen Hand zu erledigende Käfer), um diesen Zeitschwarm totzukriegen, begann er, weil er die Musik für das beste Zeitvernichtungsmittel hielt, auf dem Flügel zu improvisieren, ein Gebilde aus komplizierten Upper Structures zu errichten, ein Gebäude aus übereinandergeschichteten Akkorden, Licks, Changes, technischen Fingerfertigkeiten, von Harmonielehrekenntnissen, virtuos, aber bedeutungslos, wie er es sich angewöhnt hatte. Und immer wieder, indem er spielte und die Zeit vernichtete, wunderte er sich über seine plötzliche gute Laune, fragte sich, worauf sie zurückzuführen sei, die beinahe festliche Illumination seiner Seeleräume. Wer hatte den Lichtschalter betätigt, fragte er sich, am Flügel sitzend, war dies Betty oder die chemische Zusammensetzung in seinen Zellen gewesen, war dies die Liebe, große Lichtanzünderin, oder die zufällig ausgewogene Mischung des Chemiecocktails im Wunderlaboratorium, in den Schaltstellen der Glücks- und Unglücksmaschinerie des menschlichen Gehirns?

Und wie immer, wenn er an Betty dachte, die Fackelträgerin, mit einem hellen Feuerzeugschein hoch über dem Kopf, war längst der zweite Gedanke, der aus dem ersten hervorging, welcher wiederum ohne jenen gar nicht möglich war, so wie die Lichtquelle nicht ohne das Licht zu denken ist oder der Ton ohne den Schall oder oder, auch schon da.

RUMFAHREN

Marc war im September zurückgekommen. Das blaue Tuch des Himmels hing hoch über der Stadt, und die Sonne brannte ihr weißes Loch hinein. Vom Flughafen Tegel aus hatten sie nur bis in den Wedding fahren wollen und kamen aber ans Meer. Zufällig. Weil Marc nicht nach Hause wollte, weil er noch ein bisschen rumfahren wollte, wie er sagte, bitte, falls Tom Zeit habe, und der hatte Zeit (Zeit war etwas, das damals bei ihm in beinah unbegrenzten Mengen vorkam, wie das Wasser aus der Leitung, man musste es sich nur abfüllen), und so waren sie am frühen Nachmittag nicht im Wedding, sondern an der Ostsee bei Ahlbeck, wohin sie vom S-Bahnhof Bernau aus in seinem grünen, nach Hund stinkenden Jägerauto ein freundlicher Jäger mitgenommen hatte, der ihnen während der Fahrt die Arbeitslosenproblematik, die seiner Meinung nach übrigens mit der Ausländerproblematik zusammenhänge, die wiederum die größte Herausforderung des wiedervereinigten Deutschlands sei, in aller Ausführlichkeit erläuterte. Er habe aber nichts gegen Ausländer. Prinzipiell eigentlich nicht, sagte er. Er fuhr auf eine Treibjagd. Nichts für ungut. Und sie bedankten sich und waren zufällig am Meer. Tom wäre bei dieser Gelegenheit zufällig fast ertrunken. Er ließ es sich aber nicht anmerken.

Er dachte in Genua: Immer ist alles anders gekommen mit Marc. Jeder Tag eine unvorhergesehene Wendung. Ein Knick um neunzig Grad hinter dem Horizont. Man will in den Wedding und kommt ans Meer. Man will Klavierschüler und kriegt eine Geliebte. Man will, dass alles so bleibt, und alles ändert sich.