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Er erinnerte sich: Er war sich, als er an jenem frühen Septembermorgen in der warmen Flughafenhalle stand und wartete, nicht sicher gewesen, ob er der Einzige sei, der Marc abholen wollte, denn abgesehen von einigen wenigen biographischen Eckdaten hatte er damals nicht viel über Marc gewusst. Ihre Briefe waren ein Spiel gewesen, Teilchen eines Puzzles, die, zusammengefügt, ein seltsames Bild ihrer bisherigen Bekanntschaft ergaben. Tom wusste mehr über die Klavierschüler, Kalifornien und diverse amerikanische Mädchen als über Marc. Über eine Bagelverkäuferin jüdischer Abstammung namens Victoria beispielsweise, deren Großvater 1937 emigriert war und in Berkeley den ersten Hundefrisiersalon eröffnet hatte, wusste er, dass sie Hölderlin liebte und noch mit Mitte zwanzig eine Zahnspange trug. Er wusste, dass in Marcs quadratischem Studentenzimmer über dem kleinen grünen Waschbecken statt eines Spiegels eine riesige USA-Landkarte hing, weswegen man beim Rasieren das Gefühl hatte, Amerika zu mähen. Tom wusste über eine gewisse Jackie, dass diese sich hatte» die Nase machen lassen«, wie sie zu sagen pflegte, und wusste, dass eine puppenknopfäugige Hunde-Ausführerin namens Lindy mit acht Hunden auf einmal konnte, wobei sich der Kreis zu Victorias jüdischem Großvater schloss, aber im Grunde wusste er wenig über Marc. Es war anzunehmen, dass er außer Tom noch andere Bekannte in Berlin hatte, vielleicht sogar eine Freundin oder Exfreundin, die aufgrund seiner langen Abwesenheit irgendeine verlorene Zuneigung wiederentdeckt zu haben glaubte oder aus alter Gewohnheit auf ihn wartete.

Marc war als Letzter durch die Glastür gekommen. Er schien es nicht besonders eilig zu haben mit seiner Rückkehr. Ohne sich in der Menge der Wartenden umzusehen, ging er mit langen, aber gemächlichen Schritten auf den Ausgang zu. Seine Haut war gebräunt, die Haare fielen hell nahezu bis auf die Schultern hinab, die Augen schmal, um das Sonnenlicht zurückzuhalten, aber die Brauen schwebten wie Möwenflügel über seinem Gesicht, und der Blick strebte geradeaus über die Menge hinweg. Er rechnete mit niemandem offensichtlich oder gab sich den Anschein, es nicht zu tun, oder hatte sich vorgenommen, niemanden zu erwarten, um nicht enttäuscht zu werden. Erst kurz vor der Drehtür entdeckte er Tom.

«Da bist du ja«, sagte er und lächelte.»Ich dachte schon, du kommst nicht.«

Sie warteten auf den Flughafenbus. Die Sonne stand gläsern im Himmel, streute zerbrechliche Wärme.

«Lass uns noch nicht nach Hause«, sagte Marc plötzlich, fast flehend.»Lass uns noch ein bisschen rumfahren. Bitte. Hast du Zeit?«

Da Zeit in jenen Tagen in unbegrenzten Mengen aus der Wasserleitung des Lebens kam, langten sie gegen Mittag am Meer an. Und das Meer lag wie das Meer persönlich herum. Bis zum Horizont. Salzgeruch wehte ihnen entgegen, als sie auf der hohen Uferböschung standen und gegen das Licht blickten, das in einem weißen Dreieck auf der Meeresfläche ausgebreitet war. Sie rannten los, ließen Marcs Gepäck (einen alten Rucksack und einen kleinen dunkelroten Plastikkoffer, das war alles nach einem halben Jahr Kalifornien) in den Sand fallen und liefen übers weiche, hellgrüne, vom Wind gebeugte Dünengras zum Ufer. Am Wasser blieben sie keuchend stehen, krempelten die Hosenbeine auf und wateten hinein. Die Kälte versetzte ihnen Nadelstiche, Gischt wirbelte auf wie weißer Funkenregen, als Marc mit den Händen auf die Wasseroberfläche klatschte und eine Woge gegen seinen Freund schob, und der zurück, bis sie sich, da sie ohnehin bereits bis zur Hüfte im Wasser standen, ganz hineinwarfen mit einem lauten Jauchzen und hinausschwammen. Immer dem Licht nach.

Sie schwammen. Er sah Marcs Kopf neben sich. Die Tropfen, die brachen und an seiner Wange hinabrannen. Sie schwammen stumm, umgeben nur von den Geräuschen des Meeres, dem Klatschen ihrer eigenen Bewegungen und dünnem Möwengeschrei.

Tom aber fiel zurück, seine Arme wurden schwer, und die Kleidung schien ihn hinunterzuziehen. Marcs Kopf war ein schwarzer Umriss im Gegenlicht, ein Kopf ohne Körper. Das Licht schloss ihn ein, trug ihn immer weiter dem Horizont zu. Umkehren, dachte Tom, bitte kehr um, Idiot, und seine Arme wurden steif vor Schmerz, das Keuchen schabte in seiner Kehle. Eine Welle hob sich vorn und schlug ihm ins Gesicht, er verschluckte sich, die Augen brannten, und ein Husten schüttelte ihn, ließ die Schwimmbewegungen, die ihm ohnehin immer schwerer fielen, verkümmern. Als er die Augen öffnete und nach Luft schnappte, sah er, dass Marcs Kopf noch kleiner geworden war. Der Meeresspiegel kippte von links nach rechts, hob und senkte sich, und mit ihm Marcs Kopf vor seinen Augen.

Als sie nebeneinander ans Ufer wateten, sahen sie sich nicht an. Tom meinte, von der Hüfte abwärts keinen Körper mehr zu besitzen, auch keine Arme. Rumpf und Kopf schwebten über dem Sand, ließen sich hinabfallen und wunderten sich über die Beine, die doch anwesend waren und sich ausstreckten. Die Hose klebte eng daran, in scharf geschnittenen Falten. Sein Atem ging schnell, aber er gab sich Mühe, in aller Seelenruhe über die Landschaft zu blicken, die scheinbar stieg und sich senkte mit jedem Herzschlag. Die Stille surrte in den Ohren.

«Wir hätten vorher die Klamotten ausziehen sollen«, sagte irgendwann Tom, weil er fror und dachte, dass es an der Zeit sei, etwas zu sagen.

Marc lächelte und kaute an einem Grashalm und hörte nicht auf, in die Ferne hinauszusehen.»Wir haben doch alles dabei«, sagte er.

Nachdem sie sich trockene Marc-Kleider angezogen hatten — die Hosen für Tom viel zu lang, Pullover etwas zu figurbetont, aber chic, sagte Marc —, streckten sie sich auf dem Sand aus. Sonnenwärme glitt herab und legte sich wie ein warmer Waschlappen auf ihre Gesichter. Als Tom aufwachte, sah er Marcs geraden Rücken vor dem Himmel. Sein Gesicht zeigte in Richtung Meer, das inzwischen die Farbe geändert hatte und metallen spiegelte. Zwei Menschen, ein Paar, gingen in der Ferne, Arm in Arm.

Als hätte Marc gehört, dass er die Augen geöffnet hatte, sagte er, ohne ihn anzusehen:»Man könnte immer so sitzen. Ich könnte alt werden und hier sitzen und aufs Meer hinausschauen dabei. Es ist, als ob alles aufhört. Alles hört plötzlich auf, wenn man am Meer ist. Ich glaube, es würde keine Verbrechen geben, wenn die Leute immer am Meer säßen.«

«Wie auch?«, sagte Tom und setzte sich auf, mit der Hand seine Augen abschirmend.

«Wie sollen wir leben?«, sagte Marc.»Am Meer sitzen!«, antwortete er sich selbst und lächelte.

Die Sonne stand jetzt groß und rund am Himmel und vertropfte rote Malkastenfarbe ins Wasser, die sich entlang der Horizontlinie ausbreitete. Es war Abend geworden. Marc grub aus seinem Rucksack eine Flasche Mescal, die er Tom auf die Beine legte.»Hab ich dir mitgebracht«, sagte er und verteilte Jacken und zwei belegte Brötchen aus dem Flugzeug.

«Und? Was macht Breitenbach?«, fragte er kauend.

«Der Hase spielt jetzt Chopin«, sagte Tom.

Sie lachten beide.

«Und die gute alte Hermanns?«Marc nahm einen Schluck Mescal und blickte aufs Meer. Tom hatte zwei Zigaretten gedreht und hustete. Seine Wangen glühten. Er suchte in seinen Taschen nach Feuer, fand aber keines, da es Marcs Jacke war, die er trug, wie ihm einfiel. Ein helles Zucken flammte in seinen Pupillen, als sein Freund ihm Feuer gab und nicht nur mit dem Streichholz, sondern auch mit dem Blick in sein Gesicht hineinleuchtete.

«Nichts«, sagte Tom und wandte seinen Kopf.»Gut, sie macht es gut«, fügte er hinzu.

«Aha«, sagte Marc und lächelte aufs Meer hinaus.»Und du?«

«Was und ich?«

Marc sah ihn jetzt lange an.

«Du bist ja verliebt«, sagte er dann, stach seinen Ellbogen in Toms Seite.

«Ach Quatsch, verliebt. Was heißt außerdem verliebt.«