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«Gute Frage!«

«Es ist eine Affäre, weiter nichts.«

Tom wollte das Thema abschließen, aber aus seinem Bauch bis in den Hals hinauf stieg auf einmal das warme Gefühl, über Frau Hermanns sprechen zu müssen. Über ihre grauen Augen beispielsweise, die so unbeteiligt an seinem Gesicht vorbeisehen konnten, durch das blanke Fenster in den Garten hinaus, um dann eine Sekunde später aus irgendeiner Ecke unter den Rosenrabatten eine Dunkelheit hervorzuholen und diese mit einem leisen Seufzen und Vibrieren der Lider ganz flüchtig in seine Richtung zu hauchen. Und wenn sie dann, als hätte sie nichts in ihm angerichtet, Minuten später aufstand und ihn hinausbegleitete wie einen zufällig ins Haus geschneiten Staubsaugervertreter. Mit wem hätte er darüber reden sollen, wenn nicht mit Marc.

«Sie ist so … geheimnisvoll«, schloss er.»Irgendwie ägyptisch.«

Die Sonne lag als Halbscheibe auf dem Meeresrand. Ein paar Möwen zogen vor ihr entlang.

«Es gibt einen einfachen Trick«, sagte Marc nach einigen Minuten der Stille.»Einen Test, um rauszufinden, ob man verliebt ist oder nicht. Und zwar«, sprach Marc, indem er fortfuhr, auf dem Grashalm zu kauen,»man muss sich die Frau auf dem Klo vorstellen, also auf Deutsch gesagt beim Scheißen. Wenn man dann immer noch verliebt ist, dann ist man verliebt, was immer das heißen soll.«

Tom überlegte, konnte es sich aber eigentlich durchaus nicht vorstellen, was daran lag, wie er dachte und es auch sagte, dass es nicht eigentlich zu ihr passte, und wahrscheinlich ging sie auch nicht auf ein Klo, es gab einfach Menschen, die gingen auf kein Klo.

«Und was wäre dann Liebe?«, fragte er und beobachtete, wie der Scheitel der Sonne ins Meer gesaugt wurde und nur ein paar rote Schlieren an der Oberfläche zurückließ.

«Die Klogeschichte, nur musst du dir vorstellen, dass die Frau schon alt ist und immer noch auf dem Klo sitzt«, sagte Marc,»und wenn es dich dann nicht stört, dann ist es Liebe.«

Später gingen sie am Ufer entlang. Weiß und flirrend kratzten erste Sterne an die blauglühende Kuppel, eine schräge Mondsichel. Tom und Marc waren nahezu allein in der unendlichen und erhabenen Natur. Nur in der Ferne warf ein Mann einen Stock für einen Hund, der bellend in die Gischt rannte.

«Warum wolltest du mir nicht schreiben?«, fragte Tom.

«Man könnte echt meinen, es wäre für uns so eingerichtet«, murmelte Marc, als hätte er ihn nicht gehört, und sah wieder in die Ferne, dorthin, wo sich Meer und Himmel jeden Abend heimlich trafen.

«Ja, so ein Zufall aber auch, dass es so schön geworden ist«, sagte Tom.

«Ja, und jammerschade eigentlich, wenn die Menschen bald abkratzen und es dann keiner mehr sieht.«

«Ja«, sagte Tom.»Eigentlich echt.«

«Ich habe seit dem Tod meines Vaters keinen Brief mehr geschrieben«, sagte Marc. Er hob einen Stein auf und schleuderte ihn ins Wasser.

«Warum nicht?«

Marc ging weiter und sah dem Stein hinterher, aber auch als er längst versunken war, blieb sein Gesicht zum Meer gewandt, als wolle er mit ihm alles besprechen, aufgrund seiner überwältigenden Lebenserfahrung vielleicht, und Tom hatte Mühe, die Worte aus Rauschen und Wind herauszufangen, damit sie nicht irgendwo über dem Wasser abstürzten.

Nach seinem Abitur, sagte Marc, nach dem Wunsiedel-Sommer, dem Bruch mit Tamara und seiner Entscheidung für die Schreinerlehre, für die Wirklichkeit, wie er es nannte, sei er zu einer Europareise aufgebrochen. Zwei Monate lang habe er die Mittelmeerländer abgeklappert, sagte er, mit ein paar Leuten, per InterRail und Autostop. Er sei froh gewesen, aus seinem Elternhaus wegzukommen, denn sie hätten häufig gestritten gegen Ende seiner Schulzeit, vor allem mit seinem Vater, von dem er den Flügel habe und der ihm das Klavierspiel beigebracht habe, als er mit der Nase kaum über die Tasten reichte, habe er fast täglich Auseinandersetzungen gehabt.

«Die Schreinerlehre hat ihm nicht gepasst. Seiner Meinung nach sollte ich Musiker werden, was er nicht hatte werden können. Er hat damals nicht studieren können, er musste eine Lehre machen, weil seine Eltern kein Geld hatten. Er hat dann später noch Abi nachgemacht und schließlich doch studiert, Jura. Er ist Staatsanwalt geworden, aber er wollte eigentlich immer nur Klavier spielen.«

«Und dann solltest wenigstens du Klavier spielen.«

Marc blieb stehen, hob ein Stück Treibholz auf und warf es gegen den Wind, obwohl kein Hund in der Nähe war, der es hätte zurückbringen können. Langsam lief er weiter.

Ein halbes Jahr vorher habe man bei seinem Vater Krebs diagnostiziert. Er sei operiert wurden, Chemotherapie, mit Erfolg, es sei aufwärtsgegangen, er habe wieder angefangen zu arbeiten und mit seinem Sohn zu streiten, so dass die Mutter regelmäßig heulend zu einer Freundin gezogen sei. Marc grinste.»Wahrscheinlich war es ein Vorwand. Ich wette, dass sie einen Heidenspaß hatten bei ihren Frauenabenden. «Dann wischte ihm der Wind das Lachen aus dem Gesicht.»Als ich Abi hatte, war ich heilfroh, erst mal weg zu sein. Ich konnte es kaum erwarten rauszukommen. «Marc hielt inne, als müsste er die einzelnen Ereignisse sortieren, ein Archäologe vor einer Handvoll Scherben. Tom hörte an der Art seines Einatmens, dass er es noch nicht oft erzählt hatte.

«In Griechenland hab ich ihm dann einen Brief geschrieben«, fuhr er fort,»fünf Seiten voller Buchstaben, ich hab mehrere Tage dran geschrieben, immer wieder von vorn angefangen. Als ich den Anruf bekommen habe, bin ich nach Hause gefahren, und zwei Tage nach der Beerdigung kam mein Brief.«

Marc schwieg, Tom sah sein Gesicht von der Seite, es war hell im Sternenlicht. Auch der in die Nacht führende weiße Bogen des Strandes und die Gischtkronen auf dem Wasser waren unwirklich erleuchtet.

«Damals ist mir aufgefallen«, sagte Marc,»dass jeden Augenblick alles passieren kann. Alles, verstehst du?«

Tom nickte, war sich aber nicht endgültig sicher.

«Wenn ich mich jetzt hinsetze und einen Brief schreibe, dann kann in der nächsten Minute schon alles falsch sein.«

«Vielleicht war es trotzdem gut«, sagte Tom.

«Was?«

«Den Brief zu schreiben.«

«Wieso?«

«Weil du an ihn gedacht hast, vielleicht hat er es irgendwie gespürt.«

Marc zuckte die Achseln.»Er wäre nicht gestorben«, sagte er leise. Dann lächelte er und schüttelte knapp den Kopf, entweder um seine Haare aus dem Gesicht zu bekommen oder eine Erinnerung.

«Es ist lange her«, sagte er in einem Tonfall, in dem man sonst sagt, dies oder jenes sei nur ein Film, eine erfundene Geschichte. Aber vielleicht war ja der Tod nichts anderes als eine solche Geschichte, erfunden und hochgradig irreal.

«Und deine Mutter?«, fragte Tom.

«Oh, sie lebt«, sagte Marc.»Sie hat ihre Arbeit.«

«Was macht sie?«

«Sie haut den ganzen Tag auf Steinen rum. Sie ist Bildhauerin. Zum Geldverdienen meißelt sie Kätzchen und Häschen für finanzkräftige Kleinstadtgemeinden, und als Kunst macht sie riesengroße Klötze und Schrotthaufen, die natürlich niemand haben will, weil alle Vorgärten zu klein sind. «Marc grinste.»Und deine Eltern?«

Tom hatte die Frage befürchtet.

«Es gibt eigentlich nicht viel über sie zu erzählen, außer dass sie sich hassen.«

Marc blieb stehen und lachte.»Das ist doch schon eine ganze Menge.«

WG

Erst einige Monate später, als sein Mitbewohner Björn aus- und Marc in der riesigen, aber spottbilligen, weil heruntergekommenen Vierzimmerwohnung in der Knaackstraße, Klo halbe Treppe, längst eingezogen war und Tom bereits alles ihn selbst Betreffende, die Geschichte seiner Eltern, die Geschichte seiner Herkunft, die Geschichte seiner Geschichte, vor ihm ausgebreitet hatte wie eine detaillierte Landkarte, in der auch das kleinste Seitental nicht unentdeckt bleiben soll, nachdem er sich also mit allen Verwerfungen und Erhebungen und Knicken seines bisherigen Lebens entfaltet hatte, und Marc alles über ihn erfahren hatte, was nicht viel war, aber immerhin alles, erwähnte dieser eines Wintermorgens beim Frühstück in einem Nebensatz, so als sei es eigentlich nicht der Rede wert, dass man ihm während seines USA-Aufenthalts übrigens einen Nachwuchspreis für junge Komponisten verliehen habe.