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Für diese letzteren Fälle hatten sie ein Zeichen verabredet. Marc kam in die Küche und sagte:»Haben wir noch Kaffee?«Tom, der sofort verstand, öffnete den Schrank, sah in eine Dose und schüttelte mit bedauernder Miene den Kopf, Gelegenheit für die Frau, um auf Wiedersehen zu sagen und mit einem Anstandskuss durch die Wohnungstür in die kühle Freiheit des Treppenhauses zu entschwinden.

«Du bist furchtbar«, sagte Tom manchmal.

«Warum?«, antwortete Marc.

«Wenn sich mal eine ernstlich in dich verliebt, was dann?«

«Dann verliebe ich mich auch in sie, versprochen.«

Tom dagegen war ein Spezialist. Oder ein Idiot, wie Marc es formulierte. Er konzentrierte sich auf die Klavierstunden in der Hermannschen Villa, die im Winterlicht im kahlen Garten ein stilles, ein ewiges, ein hinter den Rosenheckenmauern schlafendes Märchenland war. Darin die Schneekönigin in kniehohen Stiefeln, die der Klavierlehrer ihr am liebsten sofort ausgezogen hätte. Aber nicht er war es, der entschied, wie der Unterricht im Einzelnen vonstattenging, zudem hatte er zuallererst einen pädagogischen Auftrag zu erfüllen, und seine Schülerin machte Fortschritte, was den Lehrer mit Stolz erfüllte.

«Du müsstest sie mal hören«, sagte er zu Marc.

Der grinste nur.

«Nein wirklich! Wie sie jetzt den Chopin spielt, sie hat Gehör, sie spürt die Struktur, sie spielt wirklich intelligent!«

«Sie hat einen guten Lehrer, der auch noch verliebt ist. Da kann sie ja gar nicht schlecht spielen.«

Tom verdrehte die Augen.

Noch immer hatten sie kein Wort gewechselt, kein wirkliches Wort über ihre seltsame Beziehung. Sie sprachen über die Hunde, die manchmal zum Tierarzt mussten, über die Kinder, die manchmal anriefen und Weihnachten nach Hause kämen, und Tom wurde sogar in die Geschenke eingeweiht, die sie unter dem bis zur Decke reichenden Christbaum im Salon erwarten würden: Patrizia bekam seidene Unterwäsche, ein Buch und eine Spiegelreflexkamera, die sie sich gewünscht hatte. Udo bekam auch eine Spiegelreflexkamera, obgleich er schon eine besaß, aber der Gerechtigkeit halber, einen dunkelblauen Pullunder und ein Buch. Alles zog Frau Hermanns für Tom aus dem riesigen Wohnzimmerschrank hervor und zeigte es ihm, indem sie jeden der Gegenstände, einen nach dem anderen, mit weit ausgestreckten Armen vor sich in die Luft hielt wie eine Monstranz. Die Hunde bekamen jeder eine Wurst (sie wurden nicht gezeigt, weil noch nicht gekauft, wie Tom annahm). Über die Geschenke für Volker, ihren Mann, sagte sie nichts.

«Was bekommt Ihr Mann?«, fragte daher Tom, er nahm einen Schluck Bio-Orangensaft und schob sich ein Plätzchen in den Mund, wischte sich einige Krümel von der Hose.

«Tja«, sagte Frau Hermanns, und sie seufzte,»wenn ich das nur wüsste. Aber vielleicht fällt Ihnen ja etwas ein, Thomas.«

Also setzte er sich mit ihr an das niedrige Couchtischchen, auf dem nur eine Vase stand mit einer kerzengeraden einsamen Lilie darin, und gemeinsam blätterten sie einen Katalog mit Herrenartikeln durch.

«Schließlich sind Sie ein Mann und wissen, was Männern gefällt«, sagte sie.

Er wusste es, traute sich aber nicht, es zu sagen.

«Eine Uhr vielleicht?«, flüsterte er. Frau Hermanns beugte sich über den Katalog, er sah die Härchen in ihrem Nacken, er roch ihr Parfum.

«Meinen Sie? Eine Uhr?«

«Eine Uhr kann man immer brauchen«, murmelte er. Aber Volker Hermanns hatte bereits drei. Am Ende entschieden sie sich für einen herrlichen Kaschmirschal in Dunkelrot, ein Buch zum Lesen, dazu Opernkarten, Frau Hermanns liebte die Oper.

«Ach, es ist ja nur symbolisch«, sagte sie,»wir haben doch alles …«Sie seufzte, als wäre es ein großes Unglück, alles zu haben.

Sie erhob sich, um den Orangensaft herüberzuholen. Tom schloss die Augen und atmete ihren Geruch ein, der sich nur zögernd mit ihr entfernte.

«Und, was machen Sie Weihnachten?«, fragte sie, als sie wieder neben ihm saß, und sie setzte ein Lächeln auf wie andere eine Sonnenbrille.»Sicher fahren Sie nach Hause?«

Tom schüttelte den Kopf. Ich möchte mit dir durch den Schnee, meine Schöne, Haut wie Schnee, an einen Baum gepresst, dich küssen, dachte er.»Ich bleibe in Berlin«, sagte er.

Sie setzte ihr Lächeln ab wie andere eine Sonnenbrille, offenbar, um besser sehen zu können.»Da werden Ihre Eltern aber traurig sein«, nahm sie an.

«Das sind sie auch, wenn ich da bin. Wir telefonieren, und meine Mutter weint in den Telefonhörer, ohne besonderen Grund, nur so, weil Weihnachten ist.«

Und wieder lächelte sie. Anders jetzt, kleiner, und die Linie ihres Mundes zitterte. Sie hob ihre Hand, als wollte sie etwas anmerken, dann landete diese mit einer gedankenverlorenen Bewegung auf Toms Hose, um einen Gebäckkrümel wegzuwischen. Er atmete tief und hielt sie fest.»Ich«, sagte er, Frau Hermanns aber legte zwei Finger auf seine Lippen, während beider Blicke einander berührten, und dann ihre Körper.

Als er mit Marc darüber sprach, über ihr Rededefizit, das laut Tom in krassem Gegensatz zu ihrem körperlichen Verhältnis stehe, über ihren steinernen Blick, ihr entsetztes Schweigen, das sich nach dem Sex im Raum ausbreite und erstarre, sagte der:»Belass es dabei, Tom.«

«Das kann ich nicht«, sagte Tom.»Ich komme mir völlig schizophren vor. Ich weiß nicht mal, ob sie alles vergessen hat, wenn ich sie nächste Woche sehe. Wir fangen jedes Mal bei null an.«

«Du Glücklicher«, sagte Marc.»Belass es dabei.«

DIE LIEBE (THEORETISCH)

Mittwochs sprach Breitenbach immer über die Liebe. In einem in der sogenannten Rostlaube gelegenen, heruntergekommenen Hörsaal der Freien Universität fanden sich einmal wöchentlich die Teilnehmer seiner Vorlesung» Die Geschichte der Liebe, Teil 1«zusammen, während sich draußen die Tage aufhellten, ein schmutziges Weiß, das bis auf die Dächer der Häuser hing. Am Abend aber zerriss bisweilen der Himmel und eröffnete im Westen höhere Räume, die sich rot und rauchig in feuchten Fensterscheiben spiegelten. Tauwasser lief in Rinnsalen über den Asphalt, vorbei an Zigarettenkippen, aufgeweichten Taschentüchern, zersplitterten Plastikbechern oder vereinzelten Pizzakartons. Pfennigstücke glitzerten mattrot auf unterrauschten Kanaldeckeln, tausendfach überklebte Off-Theater- und Konzert-Plakate in kopiertem Schwarzweiß wellten sich in der Feuchtigkeit über dunkelgrauen Häuserwänden, Wohnungszettel an Ampeln oder Laternen verloren ihre Funktion, weil an ihnen die Tinte in dunklen Schlieren hinablief, als weinten sie, und leere Blätter mit Klebestreifen zurückließ. Die weitblickenderen unter den Menschen steckten ihre Wohnungsgesuche, Tango- oder Trommelkursangebote in durchsichtige Plastikhüllen, oder sie warteten mit ihren Anliegen bis zum Frühling, der ja einmal kommen musste.

Breitenbach indessen sagte, der Winter sei die Zeit des Denkens. Das Denken, sagte er, gehe im Winter nicht in die äußere Natur hinaus, sondern kehre in die innere Natur ein, wo immer ein gemütliches Licht brenne, wenn man es nur anzünde.»Genießen Sie die Winterzeit«, sagte er zu Marc und Tom, die er nach der Vorlesung oft zum Tee in seine, wie er sagte,»bescheidenen vier Wände «lud. Außerdem könne es nur besser werden im Winter. Sei man dagegen im Sommer, werde es schlechter.

«Sehen Sie«, sagte er einmal, als es draußen vor den Fenstern leicht herabschneite,»wir haben uns ein schwieriges Thema erwählt, oder besser sollten wir sagen, das Thema hat uns erwählt. «Unvermittelt stand er auf und wässerte mit einem filigranen Gießkännchen eine Reihe von Zimmerpflanzen auf dem Fensterbrett. Das überschüssige Wasser wischte er mit einem Geschirrhandtuch fort, das er anschließend zusammenknüllte und auf die Lehne seines Sessels warf. Von dort verströmte es einen säuerlichen Geschirrhandtuchgeruch, der Breitenbach offenbar entging.