«Der Liebende«, sagte der Professor und schaute ebenfalls auf die Schalen,»sieht also, ohne zu sehen. Er sieht nach innen. Er bespiegelt sich selbst, Selbstreflexion nennen wir das«, sagte er und griff plötzlich in die Schalen und knetete sie und warf sie auf den Tisch. Anschließend rieb er sich die Finger am Geschirrtuch trocken, das, wie auch ihm jetzt auffiel, stank. Er drückte seine Nase hinein und roch laut daran. Tom schielte zu Marc hinüber, sah, dass der ein Lachen kaum unterdrücken konnte, sah, wie sich die Lippen schon wölbten, wie er tief einatmete, seinen Blick mit erhobenen Brauen erwidernd, und er fingierte einen Hustenanfall. Glücklicherweise stand der Professor in diesem Moment auf, durchquerte, ohne aber das Reden einzustellen, das Zimmer,»um mir die Pfoten zu waschen«, wie er sagte. Während er auf den Flur hinaustrat, sagte er, dass die Imagination der Realität (was immer das sei) stets und ausdrücklich vorgezogen werde, dann rauschte das Wasser, Marc und Tom lachten prustend, beruhigten sich langsam, und der Professor, dem ihre Heiterkeit offenbar entgangen war, erschien wieder, setzte sich, drückte mit der Handfläche die Brille hinauf und sagte:»Das Subjekt verabschiedet sich von der Außenwelt! Das Subjekt pfeift auf die Außenwelt, es ruft ein lautes ›Lebe wohl, Dame, ich brauche dich nicht mehr. Lebe wohl, Welt, ich brauche dich nicht mehr‹, und es setzt die Segel und segelt davon auf dem weiten inneren Meer der Imagination. Verkürzt können wir also sagen, die Liebe sei nicht mehr und nicht weniger als — ein Gedanke!«
«Aber ein trauriger«, sagte Marc.
«Sie haben recht«, sagte Breitenbach und lächelte plötzlich. Wie der Lichtschein durch eine Laterne drang das Lächeln aus seinem Kopf.»Die Liebe ist immer und von jeher eine unglückliche gewesen«, sagte er wie in einer schönen, aber auch traurigen Erinnerung. In Toms Vorstellung lag der Professor ganz kurz nackt auf einer Frau, absurderweise mit Hasenohren, die sich rechts und links aufs Kopfkissen neigten, trug aber Socken. Im nächsten Augenblick saß er wieder angezogen und normalohrig auf seinem Sesselchen.
«Nie hat es eine glückliche Liebe gegeben. Eheglück«, sagte der Professor,»alltägliche Ehedurchschnittlichkeit und die Liebe haben sich von jeher ausgeschlossen, was die Mittelalterlichen wussten, wir aber nicht. Immer haben die Antiken und die Mittelalterlichen gewusst, dass eine sogenannte glückliche Ehe, eine Ehebürokratie, eine dem Denken entgegengesetzte Familienbetriebsamkeit, nichts und wieder nichts mit der Liebe zu tun hat. Wir aber wissen es nicht mehr«, sagte er nachdenklich, dann unvermittelt:»Die Kekse sind schon wieder leer?«Er nahm die Schachtel, stülpte sie auf den Kopf und schüttelte eine Wolke von Krümeln heraus. Dann feuchtete er seinen Zeigefinger an, um damit den Gebäckstaub aufzusammeln, wodurch sich glänzende Sträßchen auf der Tischplatte bildeten. Diese Tätigkeit schien ihn einige Minuten ganz zu beanspruchen, bevor er sich wieder zurücklehnte im Sesselchen und sagte, dass die Liebe unglücklich, weil naturgemäß unerfüllt und eine Krankheit zum Tode sei. Und zwar — er schüttelte den Zeigefinger — nicht als reine Geisteskrankheit, sondern als ein psychosomatisches Leiden mit schweren körperlichen Folgen sei sie in jedem mittelalterlichen Medizinkompendium verzeichnet.
«Was für Folgen?«, fragte Tom, der es genau wissen wollte.
«Du willst es aber genau wissen!«Marc grinste frech.
«Bitte?«, sagte Breitenbach, indem er mit den Augen die Gebäckstraßen verfolgte.
«Was hat die Liebeskrankheit für Folgen?«
«Tja, ich fürchte …«, sagte Marc und fuhr mit dem Daumen langsam über seinen Hals.»Man stirbt«, sagte er leise.
Tom rollte die Augen.
«Richtig«, sagte Breitenbach und nickte langsam, vollkommen ernst.»Unter Umständen stirbt man.«
DIE LIEBE (VON FERN)
Tom hatte aber keineswegs den Eindruck zu sterben. Er hatte im Allgemeinen nicht den Eindruck, überhaupt jemals zu sterben, weder wegen einer Frau noch wegen einer Liebe noch wegen Sonstigem. Die Zeit, sie lag glatt und nahezu unbegrenzt vor ihm da wie bei Windstille ein Meer, dessen Horizontlinie nichts ist als eine Täuschung.
Der Winter war hartnäckig. Nachdem sich im Februar bereits frühlingshafte Temperaturen eingestellt hatten, kamen Kälte und Schnee im März zurück. An einem Donnerstagnachmittag standen die Zweige der Äste weiß bestäubt und reglos vor dem tiefblauen Himmel, und auch Tom Holler stand, ebenfalls reglos, aber mit hochgezogenen Schultern, frierend im Garten der Hermanns’ vor dem wie frisch gestrichenen tiefblauen Himmel. Er wartete auf seine Schülerin, die offenbar nicht zu Hause war. Er stellte sich vor, wie sie den Himmel persönlich gestrichen hätte, weil es so gut zu den weißen Zweigen und den Hauben der Büsche passte. Das Wohnzimmer, in das er von der Terrasse aus einen Blick warf, lag in vollkommener Ruhe hinter den dünnseidigen Gardinen. Die Hunde, damit sie möglichst wenig Schmutz verbreiteten, lärmten und tobten in der, wie es hieß, Eingangshalle herum, welche, weil ohne Teppiche, von der Putzfrau leichter wieder gesäubert werden konnte.
Die Hunde, sagte Frau Hermanns oft und seufzte dabei, sind wunderbare Tiere, und sie liebt die Hunde über alles, aber sie machen so viel Dreck. So viel, dass er, Thomas, sich das wahrscheinlich gar nicht vorstellen könne, wie viel Dreck die Hunde im Einzelnen machen. Thomas, der jedoch noch nie Dreck in der Wohnung, nirgends, gesehen hatte, dachte oft, dass, wenn sie der Dreck in ihrem dreckfreien Haus störe, sie einmal in seine WG, in die Küche beispielsweise, kommen müsse, um zu sehen, wie wirklicher Dreck im Einzelnen aussähe, aber er sagte es ihr lieber nicht.
Er war nah an die große Fensterfront herangetreten und sah ins Wohnzimmer, entdeckte aber niemanden, außer seinem eigenen Spiegelbild, angefüllt mit den Dingen des Hauses und den Bäumen des Gartens, beobachtete, wie sich sein weißer Atem auf der Scheibe ausbreitete und wieder zusammenzog. Er dachte daran, den Abdruck seiner Lippen zu hinterlassen, näherte sich dem Glas, aber das metallisch-kalte Geräusch des Gartentors unterbrach seine Überlegungen. Fest schloss er die Augen, wie um die Welt von sich abzuschneiden und sich neu und leer seiner Geliebten zuwenden zu können, doch als er sich umdrehte, die Lider öffnete, sah er nicht sie, sondern einen Mann, der das Tor hinter sich ins Schloss fallen ließ, groß, eindrucksvoll, und der im Gehen, mit wehenden Schößen seines geöffneten Lodenmantels, die Eleganz eines Wiener Walzers verbreitete. Sein Bauch ragte etwas über den Hosenbund, hinderte ihn, als er über die Terrassentreppe auf das Haus zustrebte, aber nicht daran, sportlich jeweils zwei Stufen auf einmal zu überwinden.
Ein Streichorchester umgab Dr. Volker Hermanns. Die Töne eskortierten ihn, während er auf den wartenden Klavierlehrer zuschritt, der erst in diesem Augenblick von ihm wahrgenommen wurde. Die Mantelschöße wogten etwas nach, als Hermanns abrupt stehen blieb, erstaunt, nicht aber erschrocken, weil ein Erschrecken, wie Tom sofort sah, für diesen Hermanns niemals in Frage käme. Ein Erschrecken, dachte Tom, läge vielmehr auf meiner Seite.
Eine Amsel sang. Einige Schneeflocken schwebten von einem Baum. Dr. Hermanns neigte neugierig sein Gesicht.
«Guten Tag«, sagte er, und in seinem Mund klang es wie eine Frage, indem er die letzte Silbe in die Höhe bog.
«Guten Tag«, sagte Tom. Er sei der Klavierlehrer, erklärte er, was objektiv gesehen nicht falsch war, aber seine Stimme verwackelte etwas.
«Ach«, sagte Hermanns, der sich den Klavierlehrer offensichtlich anders vorgestellt hatte, vielleicht repräsentativer, und erst nach einem kurzen Zögern reichte er ihm die Hand und erklärte, es sei schön, den Klavierlehrer endlich einmal persönlich, Herr …