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Der erste Patient an diesem Morgen war ein 84-jähriger Anwalt aus der Provinz Benevent. Mehrfach operiertes Kolonkarzinom. Jetzt hatten die Angehörigen zugestimmt, dass man ihn ein weiteres Mal von» innen inspiziere«, wie sich De Santis scherzend auszudrücken pflegte. Wenn der Arzt scherzt, so mochten sich die Angehörigen gesagt haben, dann kann es so gravierend nicht sein, dann ist von Tod überhaupt noch nicht die Rede. Schließlich glaubt kein Lebender an den Tod. Jeder Lebende, dachte Betty, die Vitalparameter auf dem Monitor fixierend, jeder ist davon überzeugt bis zuletzt, dass der Tod an der eigenen Familie vorübergeht.

Sie stellte sich den Anwalt als Kind vor. Wie das Anwaltskind über eine kleine Weltkugel hüpft, durch hüfthohes Gras, und keine Zeit und kein Alter, nur ausgedehnte Gegenwart, Blumen und so weiter. Bienen. Und keine Ahnung, wo das Leben unvermeidlich eines Tages hinläuft: an die gekachelte Wand irgendeines Poliklinikums.

Aus dem Radio dudelte die Pastorale von Beethoven.»Die Eroica«, sagte De Santis, Betty lächelte still.

Zu Mittag Spaghetti alle Vongole. Betty hatte sich allein an den hintersten Tisch der Kantine gesetzt und sah kauend aus dem Fenster auf den Parkplatz des Poliklinikums, wo Asphaltmulden mit Licht ausgegossen waren. Als sie schon beim zweiten Gang war, sah sie De Santis mit Gefolgschaft, darunter Carlo Vitelli, vorüberschweben wie ein Tross von Schwänen mit gespreizten Flügeln der Kittelschöße. Wenig später öffnete sich die große Glastür, und die weiße Gefolgschaft nahm an einem Tisch im vorderen Bereich Platz. Betty beobachtete aus dem Augenwinkel, wie Carlo zögerte, das Tablett vor seine Brust geklemmt, und den Blick durch den nur spärlich gefüllten hohen Raum schickte, sie dann offenbar entdeckte, sich in einem Ruck zur Theke drehte, um sein Menü abzuholen, und anschließend mit einem flüchtigen Gruß zum Oberärztetisch auf sie zusteuerte. Betty griff sich eine der herumliegenden Zeitungen.

«Darf ich mich setzen?«

«Hm?«

«Darf ich?«

«Klar«, sagte sie und schob die Zeitung zur Seite, damit er sein Tablett abstellen konnte.»Setz dich. «Sie blinzelte und senkte den Blick in die Zeitung hinein, zwirbelte mit den Fingerspitzen eine ihrer Haarsträhnen vor der Schulter, den Oberkörper andeutungsweise höflich zu ihm hingedreht, während die Augen noch an diesem Artikel über eine Korruptionsaffäre hingen, der zu Ende gelesen werden wollte.

Die Kröte sei gut gelaunt heute, sagte Carlo Vitelli nach einem Räuspern. Er war der Einzige außer ihr, der De Santis wegen seiner winzigen Augen hinter der stark verkleinernden Brille und der sich nach oben hin verjüngenden Kopfform die Kröte nannte, was sie als unangenehme Überschreitung empfand, Vorspiegelung einer Komplizenschaft, die es nicht gab.

«Was sagst du wieder dazu?«, fragte sie und zeigte, weil sie wusste, dass er nichts dazu zu sagen haben würde, auf den Zeitungsartikel.

«Tja. «Er hob die Schultern, schluckte hörbar, wodurch an seinem Hals eine kantige Wölbung auf und ab hüpfte. Er hatte noch nichts angerührt, saß nur da wie ein artiger Schüler, der auf das Signal zum Anfangen wartet.

Wenn er nicht langsam esse, werde alles kalt, sagte sie im Ton einer fürsorglichen Tante, blätterte in der Zeitung, und er begann wirklich zu essen, und ihr entging nicht der feine Schwung seines Handgelenks beim Entfalten der Serviette, der auf seine Herkunft hindeutete, weit oben in der Stadt.

Sie blätterte eine zweite, offenbar ältere Zeitung durch. Sie spürte auf ihrem Gesicht den Zeichenstift seiner Vorstellung, der sie retuschierte und mit Weichzeichner versah, und als sie unvermittelt über den Rand der Zeitung zu ihm aufblickte und er hastig die Lider senkte, hatte sie plötzlich das Gefühl, ihn nicht als das zu sehen, was er augenblicklich war, sondern als das, was er in spätestens fünfzehn Jahren sein würde: ein Chefarzt mit Bauchansatz, hoher Stirn aufgrund von Geheimratsecken, mit zwei bis drei hübschen Kindern und einer ebenso hübschen, dunkelblonden Gattin, wohnhaft in Posillipo oder einer besseren Gegend des Vomero, alle wie für ein Familienfoto auf einem antiken wertvollen Sofa angeordnet, lächelnd. Sie kann im Zimmer seiner Zukunft herumgehen und sich einen Augenblick lang mit der lächelnden Familie aufs Sofa setzen und bleibt doch ein Gast, der dort nicht hingehört.

Carlo räusperte sich, tupfte mit der Serviette über den Mund, bevor er sie zusammenfaltete und unvermittelt von einem Chirurgenkongress in Mailand zu reden begann. Hochkarätig besetzt, aber im Grunde sei es ja immer dasselbe. Dann schwieg er wieder. Sie blätterte in der Zeitung, hörte, wie Carlo sich räusperte, das Trommeln seiner Fingernägel auf dem Tisch, Geschirrklirren, die Glastür, die aufflatterte und mit einem Schwung zuschlug. Alle Geräusche erschienen größer zu dieser Stunde der fast leeren Kantine, der langsam, Sekunde um Sekunde, verrinnenden Mittagspause. Betty sah auf die Uhr. Vom Oberärztetisch flog schallendes Gelächter herüber, und ihr Blick sprang vom Zifferblatt zurück auf die Feuilletonseite, wo er abrupt bei einem Foto stehen blieb: ein Jazzquartett auf einer großen Bühne, die Gesichter weiß, etwas überbelichtet durch die Scheinwerfer, und doch erinnerte sie der Pianist an jemanden, eine Ähnlichkeit war es, nichts weiter, die Kopfhaltung oder das offenbar dichte dunkle Haar, die Körperhaltung im Allgemeinen, die nach vorn geneigten Schultern, der gebeugte Nacken, während der Blick aber erhoben ist zu dem in der Mitte stehenden Kollegen, den sie nun deutlich erkannte, weil es Diedrich ist, genannt Didi, von Jagow, der Saxofonist mit der lockigen, bis zum Kinn reichenden Frisur und dem etwas speckigen, scheinbar alterslosen Gesicht, und demnach kannte sie auch den Pianisten.

Vitelli sagte:»Qualitätsmanagement. «Betty nickte. Vitelli sagte:»Die Mailänder sind ja schon immer Snobs gewesen. «Betty nickte, entzifferte die Bildunterschrift, und erst jetzt, als sie diesen Namen las, merkte sie, wie ihr Herz pochte, während sie wieder und wieder die Anordnung von Schriftzeichen las, die doch nur Schriftzeichen waren in bestimmter Reihenfolge auf Papier: Il Quartetto mare, Tom Holler, Pianoforte, die Auflistung der Tourdaten, Genova, Roma, Napoli, Palermo. Und gleichzeitig begann es in ihrem Kopf zu rechnen. Nicht sie rechnete, sondern etwas, das aber nicht gut rechnen konnte, rechnete: Wann ist das, heute ist … und so weiter, also übernächste Woche, Dienstag oder Mittwoch, wie auch immer.

«Betty!«Sie hörte ihren Namen, fühlte sich aber nicht angesprochen. Carlo, der ihre Verwirrung offenbar auf sich bezog, berührte sie leicht am Handgelenk. Sie sah es, sah zu ihm auf, brauchte lange, um ihn scharfzustellen. Sein Mund bewegte sich weiter, aber ohne Ton. Und auch seine Gesichtszüge verschwammen wieder zu einer hellen Fläche.

Plötzlich hörte sie ihn sagen:»Betty. Ich würde dich gerne zum Essen einladen.«

«Ja«, sagte sie, auf einmal froh, ihn zu sehen.»Total gern.«

BETTY MORGENTHAL

Monticchio hieß das Nest. Ein Labyrinth steinerner Gassen und kreisrunder Plätze ohne Schatten. Hedda hatte entschieden, dorthin zu fahren,»nein, nicht ans Meer«, hatte sie gesagt,»da fahren alle hin, wir aber fahren in die Berge«, was so viel heißen sollte wie:»Wir sind etwas Besonderes. «In Wahrheit aber war nur sie etwas Besonderes mit ihrer norwegischen Diplomatenherkunft, den dunklen Augen, die sich erst im hellsten Licht als blau erwiesen, und mit ihrer Sprache wie aus dem Deutschbuch, aber seit sie mit ihm verheiratet war, hatte auch er besonders zu sein. Monticchio also. Nach einer Woche flüssiger Sonne, die sich aus einem uferlosen tiefblauen Himmel ergoss, hatte sie dann entschieden, doch noch ans Meer zu fahren.

Soweit Tom Holler sich erinnerte, hatte er selbst nie in seinem Leben eine nennenswerte Entscheidung getroffen. (»Nie tust du etwas.«) Nicht, als er Ende der sechziger Jahre in einem südhessischen Dorf mit jener Selbstverständlichkeit gezeugt und geboren wurde, mit der man damals Kinder zeugte und gebar und Einbauküchen und pastellfarbene Autos kaufte, nicht, als er in der fünften Klasse begann, sich das Klavierspielen beizubringen, weil das Instrument zufällig in demjenigen Zimmer, dem Dachzimmer, stand, das am weitesten von seinen Eltern entfernt war, ebenso wenig, als er nach dem Abitur ins kohlendunkle Berlin ging, um Jazzpiano zu studieren, ganz und gar nicht zehn Jahre später, als er gegen alle Erwartungen anfing, mit seiner Musik Geld zu verdienen, Geld, das ihm erlaubte, Dinge zu kaufen, von denen sich nun jemand würde überlegen müssen, wie man sie wieder loswurde, und natürlich nicht, als er Hedda heiratete.